Der Radmarathon Granfondo Stelvio Santini führt über Mortirolo und Stilfser Joch, zwei der legendärsten Alpenpässe
Zwei große Ziele gehören zum Leben jedes Rennradenthusiasten: 1. Die Teilnahme an einem Radmarathon und 2. einen legendären Anstieg zu bezwingen, den auch die Profis bei einer großen Landesrundfahrt unter die Räder nehmen.
Der Radmarathon Granfondo Stelvio Santini in Italien bietet beides in einem. Die Strecke von Bormio aus mit 152 km und insgesamt 4058 Höhenmetern führt über den Mortirolo-Pass und endet auf dem Stilfser Joch (Italienisch: Passo di Stelvio). Der Mortirolo mit 1300 Höhenmetern auf 12,8 km gehörte dieses Jahr auch zur 16. und wohl härtesten Etappe des Giro d’Italia, die nur 12 Tage vor dem Granfondo stattfand.
Die besondere Herausforderung des Stelvio sind nicht die Steigungen, meistens liegen sie bei 5 bis 9 %, sondern die Länge von 22 km und die Höhe von 2758 Metern plus die Tatsache, dass man vorher schon den Mortirolo in den Knochen hat.
Eine solche Herausforderung zu meistern ist mit Sicherheit eines der schönsten Erlebnisse für einen Rennradfahrer. Wenn schönes Wetter dazukommt, wie bei der diesjährigen Austragung, dann umso mehr. Damit es auch wirklich zu einem schönen Erlebnis wird, gehören die richtige Vorbereitung und Ausrüstung unbedingt dazu
1. Das Training
3000, besser 4000 Jahreskilometer vor einem solchen Event sind das Mindeste. Weil es beim Marathon durch die Berge geht, sollte die Trainingsrunde nie ganz flach sein. Wer keinen Alpenpass in der Nähe hat, fährt seinen Hausberg mehrfach hintereinander und streut ein paar Zwischensprints bergauf ein. Eine Distanz von über 150 km mit ordentlich Höhenmetern sollte man vor einem Granfondo mehrfach gefahren sein. Mein Geheimtipp: Training mit Gewichten. Am Jahresanfang wog ich bei 1,84 m Größe noch 85 kg und fuhr ein 10 kg schweres Stahlrad. Wer diese Masse ein paar Mal seinen Hausberg hochwuchtet, nimmt ganz schnell ab. Am Marathon-Tag am 7. Juni zeigte die Waage 76 kg.
2. Das Rennrad
Apropos Gewicht, auch das Bike muss hochgebirgstauglich sein. Das Stahlrad hatte ich sechs Wochen vor dem Granfondo durch ein 6,7 kg leichtes Bianchi Infinito CV mit Campagnolo Super Record-Gruppe ersetzt. Die Sitzposition sollte nicht zu gestreckt sein, eine Granfondo-/Touring-Geometrie ist hier klar von Vorteil. Wichtig ist, dass man sich auf dem Rad wohlfühlt und man vor spätestens vier Wochen vor dem Event an seiner Wohlfühl-Position nichts mehr verändert. Zum Wohlfühlen gehört für mich auf jeden Fall ein möglichst breiter Lenker, der v.a. an steilen und langen Bergen genug Platz zum Atmen bietet. Deshalb ist an meinem Rennrad der Superleggero Carbon-Lenker von Deda in Breite 46 cm montiert. Durch die Breite und den weiten Übergang vom Oberlenker nach vorne bietet er eine zusätzliche Griffposition ein Stück hinter dem Bremsgriff, die besonders bei langen Kletterpassagen angenehm ist.
Hochgebirgstauglichkeit gilt natürlich auch für die Übersetzung. Für den Mortirolo wählte ich 36/29 als kleinsten Gang. An manchen Passagen ist das allerdings schon hart an der Grenze. Während für Campagnolo bei 34/29 nach unten Schluss ist, können Shimano- und Sram-Fahrer gern eine Kassette mit bis zu 32 Zähnen montieren. Und keiner muss sich schämen, an einem Berg wie dem Mortirolo seinen 32er Rettungsring zu benutzen. Dazu gleich mehr:
3. Anreise und Unterkunft
Reist unbedingt rechtzeitig am Vortag an, sodass ihr Eure Startunterlagen abholen und euch komplett vorbereiten könnt. Viel Schlaf bekommen die meisten ohnehin nicht, weil es früh los geht und man dazu recht nervös ist. Deshalb sollte man sich jede unnötige Hektik sparen. Dazu gehört auch ein vernünftiges Hotel. Das ist zwar auch eine Budgetfrage, doch ein ordentliches Bett und ein gutes Frühstück sind es auf jeden Fall wert. Unsere Wahl fiel auf das Hotel Rezia in Bormio, das zudem den Vorteil hatte, dass der Start direkt hinter dem Haus lag. Der kurze Weg bedeutete also noch einmal 10 Minuten mehr Schlaf.
4. Das Rennen
Ein Granfondo ist ein Marathon, kein Sprint. Hier geht es ums Ankommen. Lasst euch also kein Tempo aufzwingen, sondern fahrt unbedingt euren eigenen Rhytmus, besonders am Berg.
Zunächst lässt einem der Granfondo Stelvio-Santini genug Zeit zum Einrollen. Die ersten 47 km nach dem Start in Bormio geht es fast nur bergab, sodass man die erste Stunde mit einem Schnitt von gut über 40 km/h unterwegs ist. Dann kommt die erste Bergprüfung nach Teglio, die mit 5 km bei durchschnittlich 8 % und maximal 15 % Steigung noch gemäßigt ausfällt. In Teglio ist die erste Verpflegungsstation, an der klar wird, dass die die Italiener es mit dem guten Essen wirklich ernst meinen. Außer Obst und Kuchen gibt es auch richtiges Essen wie Pizza und Panini. Während man sich auf dem Rad eher mit Gels und Riegeln verpflegt, ist es für die psychische Verfassung sicher hilfreich, zwischendrin „richtiges“ Essen statt nur „Astronautennahrung“ zu sich zu nehmen. Aber: Langsam essen und nicht zu viel auf einmal, denn voller Bauch klettert nicht gern.
Nach weiteren rund 30 km folgt das sportliche Highlight des Marathons, der Mortirolo-Pass. Während der Auffahrt kommt einem allerdings selten das Wort „Highlight“ in den Sinn, eher das Wort „brutal“, das diesen legendären Anstieg ziemlich genau beschreibt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass man kurz vor dem Beginn des Anstiegs direkt an einem Friedhof vorbeifährt.
Der Berg fängt mit moderaten 9 % an mit kurzen Spitzen von 18 %, die einem schon hier fast alles abverlangen. Die mittleren 6 km liegen im Schnitt bei 12 %, dann geht es weiter mit um die 10 %, so dass es kaum möglich ist, sich zu erholen. Schon auf der unteren Hälfte kamen mir immer wieder Teilnehmer mit Startnummer entgegen, die aufgaben, weil es ihnen einfach zu hart war. Etwa drei Kilometer vor dem Gipfel wird es dann kurz etwas flacher. Die letzten zwei Kilometer sind im Schnitt wieder fast 14 % steil. Dazwischen gibt es sogar einen Abschnitt mit 23 %! Hier musste ich, wie die meisten auch, absteigen und schieben. Die Straße ist hier nämlich so schmal, dass man langsamere Fahrer schlecht überholen kann. Zudem besteht hier der Bodenbelag aus Beton, der zum Teil an einen zertretenen Golfball erinnert. Fahren ist hier auch ohne Hindernisse fast unmöglich. Erst etwas einen Kilometer vor dem Gipfel konnte ich wieder aufs Rad steigen, denn hier gibt es am Wegrand ein Geländer, an dem ich mich festhalten konnte, um wieder in beide Pedale zu klicken. Wo kein Geländer in der Nähe war, hatten die Veranstalter Helfer postiert, um „Wiederaufsteiger“ abzustützen und zu schieben – großartige Idee!
Etwas Linderung bringt es, dass fast die gesamte Strecke im Wald liegt, der Schatten spendet. Oben auf dem Mortirolo gab es wieder eine Labe. Jeder, der dort ankam und noch in der Lage war zu sprechen, gab zu, dass dieser Berg das heftigste war, was er/sie je gefahren sei.
Die Belohnung für die Quälerei ist eine Abfahrt, die ein großartiges Alpenpanorama bietet. Am Ende der Abfahrt ging es in der Mittagshitze zurück nach Bormio, den größten Teil genau auf der Strecke entlang, die es zu Anfang hinab ging, also war wieder klettern angesagt. Hier galt es zum einen, sich Kräfte für die anschließende 22-km-Kletterpartie aufs Stilfser Joch aufzusparen, zum anderen den Kontrollschluss nicht zu verpassen. Wer bis 14.15 Uhr nicht an der letzten Kontrollstelle war, durfte den Stelvio nicht mehr befahren.
Nachdem zwei Tage zuvor für den Nachmittag noch Regen angekündigt war, lag nun nichts ferner als der Gedanke an schlechtes Wetter. Wolkenloser, blauer Himmel und Temperaturen von über 25°C trugen durchaus dazu bei, die Laune zu heben, zehrten aber an den Getränkevorräten. Hier ein Tipp: Fahrt unbedingt immer mit zwei Flaschen und füllt sie an jeder Labe wieder auf! Ich hatte mir eingebildet, dass es reicht, am Fuß des Anstiegs noch einmal viel zu trinken, dann mit einer vollen Flasche auszukommen, um Gewicht zu sparen – bei noch über zwei Stunden Fahrt in der Hitze ein Riesenfehler!
Nach meinem ersten Krampf im Oberschenkel hielt ich in einem Tunnel im unteren Teil, um meine Flaschen an einem der Wasserfälle, die an der Außenseite dieser Tunnels herunterströmen, aufzufüllen. Trotz Schiebestrecke war auch dieser Anstieg ein Erlebnis. Das Panorama ist atemberaubend, nicht nur, weil mit zunehmender Höhe die Luft immer dünner wird. Die ganze Strecke liegt vor einem in 36 Spitzkehren und man kan abschätzen, wie weit es noch ist.
Mit Angesicht der Bergstation auf 2758 Meter Höhe gab es wieder Hoffnung. Die letzten Kilometer zogen sich noch zäh dahin, doch beim Blick auf die Ziellinie fasste ich sogar den Mut, die letzten 200 Meter zu sprinten – geschafft!
Das Gefühl der Zufriedenheit, das einen ergreift, sobald man wieder Luft bekommt, ist durch nichts zu ersetzen und genau der Grund, warum es sich loht, sich solch einer Herausforderung zu stellen.
Viel Spaß bei eurem nächsten Radmarathon.