Vergangenheitsbewältigung
„Kaffeezeit“, verkündet der UCI-Pressesprecher Louis Chenaille, als er mit einem Tablett den Raum betritt. Das gibt Cyclist die Chance, sich Cooksons übernommenes Büro einmal genauer anzuschauen. Aus seinem Fenster kann er auf das Velodrom blicken, und diverse symbolische Trophäen, darunter eine von der ähnlich von Skandalen heimgesuchten FIFA, zeugen von den Beziehungen zu anderen sportlichen Verwaltungsorganen. In den Regalen stehen neben Büchern über die irischen Legenden Stephen Roche und Sean Kelly, die möglicherweise ein Überbleibsel seines Vorgängers sind, ominöse Titel wie „Neue Mythologie“ und „Das Management von Sportorganisationen“.
Auch wenn in seinem Büro noch Relikte seiner Vorgänger zu finden sind, so setzt Cooksons erster Punkt seines Programms, das Wiedererlangen von Vertrauen, doch voraus, dass für eine positive Zukunft zuerst die Vergangenheit bewältigt werden muss. Mit diesem Wissen im Hinterkopf rief Cookson die Unabhängige Reform-Kommission (Cycling Independent Reform Commission, CIRC) als sein Hauptwerkzeug zur Veränderung ins Leben. „Sie besteht aus drei Mitgliedern, die zuvor nichts mit dem Radsport zu tun hatten – drei Menschen mit Anstand“, erklärt er. Dies sind ein ehemaliger Staatsanwalt, ein Anti-Doping- Experte und ein Ex-Ermittlungsleiter des Militärs.
„Wir stellen den Etat zur Verfügung“, erläutert er mit einem Blick, der zeigt, dass ihm völlig klar ist, dass dies für hochgezogene Augenbrauen bei den zahlreichen Skeptikern sorgt. „Einfach aus dem Grund, weil sonst niemand anderes dafür aufkommen will. Wir gaben ihnen die nötige Befugnis und sicherten zu, dass weder ich noch sonst jemand von der UCI ihnen dazwischenfunken wird. Sie genießen unsere vollste Kooperation und haben das Recht, auf alle Akten und elektronischen Daten zuzugreifen.“ Daher auch die nächtliche IT-Aktion.
„Soweit ich weiß, haben sie mit vielen wichtigen Personen gesprochen“, sagt Cookson. Und tatsächlich wurden beispielsweise Lance Armstrong, Pat McQuaid oder Alexander Winokurow ausführlich befragt. Der Bericht liegt seit dem 9. März vor (also nachdem dieses Gespräch geführt wurde) und zeigt auf 227 Seiten die Ergebnisse von 174 Befragungen. Er bringt zu Tage, was ohnehin die meisten befürchtet hatten: nämlich, dass im Radsport vieles im Argen lag und liegt. So soll die UCI Lance Armstrong tatsächlich aktiv vor dem Dopingkontrollsystem geschützt haben.
Auch wenn die unabhängige Kommission und die Offenlegung des jährlichen Gehalts des Präsidenten (Cookson verdient 275.000 €) ein Schritt in die richtige Richtung der Wiederherstellung des Vertrauens sind, so muss die UCI die Welt aber immer noch davon überzeugen, dass man es mit der Ausrottung des Dopings ernst meint. „Als ich hier in Aigle angekommen bin, habe ich zuerst den Präsidenten der WADA [Welt-Anti-Doping-Agentur] angerufen“, erzählt Cookson. „Damals gab es große Konflikte, es war schon fast ein Krieg. Mittlerweile arbeiten wir aber sehr gut zusammen.“
Um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, erachteten es viele für unausweichlich, das zentrale Verwaltungsorgan vom Anti-Doping-Gremium zu distanzieren. Infolgedessen hatte sich Cookson aus dem CADF-Vorstand (Cycling Anti Doping Foundation) zurückgezogen, damit er „nicht beeinflussen kann, wer getestet wird und welche Disziplinarmaßnahmen ergriffen werden.“ Was ihn jedoch nicht davon abhielt, die Blutwerte des ehemaligen Astana- Fahrers Roman Kreuziger Ende letzten Jahres als „sehr bedenklich“ zu bezeichnen.
Eine weitere Doping-Gegenmaßname der UCI ist, bei Verstößen die Verantwortung und Entscheidungsfindung zu übernehmen, statt einfach nur die Entscheidungen der nationalen Verbände zu akzeptieren. So sprach beispielsweise ein Schiedsgericht des tschechischen Radsportverbandes Kreuziger im September letzten Jahres frei, obwohl die UCI eine vierjährige Sperre empfohlen hatte. Infolgedessen beschloss man, den Fall vor den Internationalen Sportgerichtshof CAS zu bringen. Beim neuen System soll die Entscheidung über Strafen zentralisierter erfolgen, wobei das letzte Wort ein unabhängiges Gremium haben soll. Darüber hinaus sprach sich die UCI nach mehreren positiven Dopingfällen beim Astana Pro Team und einer anschließenden Untersuchung kürzlich dafür aus, dem kasachischen Radrennstall die Lizenz für die WorldTour 2015 zu entziehen. Allesamt Entscheidungen, die für Lob sorgen.
„Außerdem möchte ich die Reform des professionellen Radsports abschließen können“, erklärt er mit Bezug auf die Strukturpläne seines Vorgängers. „Wir müssen uns auf Entwicklungsländer konzentrieren, gleichzeitig aber das Erbe des Radsports in Mitteleuropa respektieren. Die meisten sind der Meinung, dass wir zu viele Renntage haben, die Veranstaltungen zu lang dauern und es zu viele Überschneidungen im Rennkalender gibt. Fragt man jedoch die einzelnen Verantwortlichen, so hört man: ‚Ja, es muss Änderungen geben. Ich weiß jedoch noch nicht, ob ich wirklich meinen Teil ändern will.‘“ Während der Straßenradsport der Männer einschneidende strukturelle Änderungen erlebt, muss der Frauenradsport professioneller werden. Cooksons erste 500 Tage sehen viele mit Rennen wie der Women’s Tour und La Course diesbezüglich als bahnbrechend an. „Auch der Rad-Weltcup der Frauen war ein großer Erfolg“, fügt Cookson hinzu.
„Den Straßenradsport der Frauen auf immer und ewig zur kleinen Schwester des Männer- Straßenradsports zu verdonnern, bringt uns nicht weiter“, erklärt er. „Es gibt Zeiten, in denen das angebracht sein mag, doch es gibt ebenso Zeiten, in denen der Frauenradsport auf eigenen Beinen stehen kann.“ Cookson ist der Meinung, dass der Rennkalender der Frauen sich eigenständig entwickeln muss und nicht gewaltsam an den der Männer gekoppelt sein sollte. Eine ähnliche Sichtweise hat er auf das Thema der unterschiedlichen Löhne der männlichen und weiblichen Profis.
„Es geht nicht einfach nur darum, eine Vorschrift zu verabschieden, die besagt, dass Frauen einen Mindestlohn bekommen. Das verabschiede ich gerne, doch würde das dem Sport Geld einbringen? Die UCI-Frauenradsport-Kommission [unter Vorsitz der UCI- Vizepräsidentin Tracey Gaudry] ist der Meinung, dass es dafür zu früh ist, daher wird es noch nicht verabschiedet.“
Raus auf’s Rad!
Schaut man sich Cooksons zurückhaltende Persönlichkeit an, glaubt man ihm schnell, dass er im Traum nicht daran geglaubt hat, eines Tages UCI-Präsident zu werden. Dennoch steckt hinter seiner Fassade das Vermächtnis von 16 Jahren beim Britischen Radsportverband. Cookson ist die Größe der Aufgabe bewusst und er strahlt eine coole Sicherheit aus, dass er der richtige Mann für den Job ist.
„Muss man bei einer quasi-demokratischen Partnerschaftsstruktur abstimmen, hat man meines Erachtens die Idee des Ganzen aus den Augen verloren“, erklärt er bezugnehmend auf das kommissionsbasierte Konsenssystem, das seine Zeit am Steuerrad höchstwahrscheinlich definieren wird. „Kann man sich durch Diskussion und Konsensbildung nicht weiterentwickeln, ist es wohl an der Zeit, von vorn zu beginnen. Wir haben zwar auch Abstimmungen, immerhin wäre ich ohne die damalige Wahl gar nicht erst hier, ich bin aber der Meinung, dass die Zeiten der sportlichen Führung im Stile eines Kaisers eigentlich schon lange abgelaufen sind. Jene, die so agieren – man könnte auch Namen nennen –, stammen aus einer anderen Ära. So wie sie möchte ich nicht sein. Der von uns beschrittene Weg ist ein wesentlich besserer, um im Sport zu arbeiten, insbesondere in einer Sportart mit so zahlreichen Disziplinen und Interessengruppen, aber auch einer, der extrem komplex ist. Derzeit bin ich begeistert von den vor uns liegenden Aufgaben und begierig, weiterzumachen.“
Die uns zugewiesene Zeit haben wir schon lange überschritten und der UCI-Präsident möchte endlich raus aufs Rad. Bei all den Dingen, die er überschauen muss, ist es kein Wunder, dass er Zeit braucht, um den Kopf freizukriegen. „Nur schnell für ein oder zwei Stündchen“, meint er mit einem Lächeln. „Dann komme ich wieder zurück für die Spätschicht.“
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