Radsport: Seit 1997 kommentiert Karsten Migels für Eurosport Tour de France, Giro und Co. Velomotion traf ihn zum Gespräch – und erlebte einen Radsportler mit Leib und Seele.
Ein Café im Rheinisch-Bergischen Kreis nahe Köln: Kaum hat Karsten Migels Platz genommen, beginnt ein kurzweiliges Gespräch über die Faszination Radsport. Aus dem höflichen Sie der ersten E-Mails wird mit völliger Selbstverständlichkeit das in Radsportkreisen übliche Du. „Unser Radsport“, diese Formulierung wählt Migels immer wieder, schließlich spricht man über eine gemeinsame Leidenschaft. Radsport und Karsten Migels, das ist kein Zweckbündnis, Kommentator ist kein Job, mit dem er nur seine Brötchen verdient. Hier sitzt ein Mann, der seine Berufung gefunden hat, in dem der Radsport nicht auf Sparflamme köchelt, sondern lichterloh brennt – auch nach Jahrzehnten als Kommentator, voller Höhen und Tiefen.
Im Alter von 14 Jahren kam Migels zum Radsport. Im Gespräch bestätigt er eine häufig kolportierte Geschichte: Der Jugendtrainer seines Fußballvereins kam zum notorischen Bankwärmer Migels, drückte ihm fünf Mark in die Hand und schickte ihn weg mit den Worten „Such Dir einen anderen Sport“. Der junge Karsten fand ihn im Rennradsattel, beim RV Concordia Reute, einem Traditionsverein aus Südbaden mit besonderem Augenmerk auf Jugendarbeit. Seither prägt der Radsport Migels´ Leben. Er war Deutscher Meister und WM-Neunter im Querfeldein, fuhr erfolgreich Amateurrennen. Zur Profikarriere reichte es nicht. Ab 1992 moderierte er Mountainbike-Rennen, später tingelte er am Wochenende durch die Republik und gab den Streckensprecher bei Kriterien. Als 1997 der Eurosportkommentator Peter Woydt an Krebs verstarb, sprang Migels ein und kommentierte Tour de Suisse und Tour de France.
Den Tour-Sieg von Jan Ullrich zu kommentieren, das war doch sicher ein Highlight?
Schon, aber es lief eher schlecht als recht. Ich hatte keine Fernseherfahrung, wurde ins kalte Wasser geschmissen – und hab auch viel Kritik einstecken müssen. Aber ich blieb freier Mitarbeiter bei Eurosport, setzte mich vor den Fernseher, wenn Klaus Angermann und Toni Rominger kommentierten, schrieb quasi mit – und lernte von der Pike auf.
Warum ist das Kommentieren Dein Traumberuf?
Es ist einfach mein Sport. Ich finde, es ist der schönste Sport der Welt. Mein Ziel ist es, den Zuschauern diese schöne Sportart zu vermitteln. Ich möchte, dass der Zuschauer Spaß an Radrennen findet, dass er wiederkommt, wieder einschaltet. Radsport ist nun mal sehr kompliziert. Aber ich glaube, wir haben in den letzten Jahren viel dazu beitragen können, dass der Radsport transparenter geworden ist, dass er verstanden wird.
Versteht man Radsport in Deutschland?
Wir sind keine Radsportnation. Zu Telekom-Zeiten hieß es immer, Deutschland sei eine Radsport-Nation, aber ich war schon damals skeptisch. Ein Beispiel: Wenn man die Flandernrundfahrt erlebt, was da morgens vor dem Start am Marktplatz von Brügge los ist, mit welchem Fachwissen das Publikum dort unterwegs ist, wie die Menschen am Straßenrand die Fahrer kennen und auch den letzten abgehängten Fahrer anfeuern, weil sie begreifen, dass er zuvor seinen Job erfüllt hat, dann sieht man: Belgien ist eine Radsportnation. Dieses Verständnis gibt es in Deutschland, aber nur hier und da, bei weitem nicht in der Breite wie in Belgien, Holland, Frankreich. Die werden damit groß.
Migels´ besondere Liebe gilt den Frühjahrsklassikern, insbesondere in Belgien. Die kleinen Sträßchen, kurzen Rampen und Kopfsteinpflasterpassagen üben eine besondere Faszination auf den 51-Jährigen aus – als Kommentator, aber auch, wenn er selbst als Hobbyradsportler im Sattel sitzt. Gut 3.000 Kilometer ist Migels seit Jahresbeginn gefahren, regelmäßig ist er mit einer Rösrather Trainingsgruppe unterwegs. Bei Rund um Köln stürzt er sich ins Getümmel des Jedermannrennens und fährt ganz vorne mit: 31. von fast 1.700 Teilnehmern ist mehr als nur ein respektables Ergebnis. Eine Hypothek für den eigenen Formaufbau stellt die Tour de France dar. Für den Kommentator Migels bedeuten die drei Wochen Frankreichrundfahrt Jahr für Jahr eine Mischung aus Dauerreise, Stress und Faszination.
Wie sieht Dein Tagesablauf bei der Tour aus?
Das sind quasi viereinhalb Wochen Vollgas. Du stehst schon vorher unter Strom, musst noch vorbereiten, die Etappen anschauen, Informationen über die Fahrer zusammentragen. Vor Ort beschäftigst du dich quasi 24 Stunden am Tag nur mit der Frankreichrundfahrt. Du stehst auf, liest Berichte und O-Töne. Du steigst ins Auto, fährst zum Ziel, unterhältst dich über Radsport. Dann geht es los, du kommentierst. Beim Abendessen mit den Kollegen, klar, redest du über Radsport. Du gehst auf´s Zimmer und liest noch einmal die Nachberichte. Selbst nachts wachst du auf und denkst an die Tour de France. Also, mir geht es so. Das ist schon anstrengend, und hinterher bist du völlig erledigt.
Was ist Dir wichtig im Umgang mit den Fahrern?
Vor allem Respekt. Gerade unmittelbar nach der Zielankunft sind die Fahrer hinüber. Da muss ich ihnen kein Mikro unter die Nase halten. Nach Ende der Tour-Etappe 1997 in Colmar habe ich einmal erlebt, wie sich die Medien auf Jan Ullrich stürzten. Das war erschreckend. Da zählte nur der O-Ton, nicht das Wohl des Menschen Ullrich in diesem Moment. Mir ist es wichtig, den Fahrern ihren Raum zu lassen. Auch beim Kommentieren. Manchmal kenne ich Hintergründe, warum ein Fahrer nicht gut fährt, etwa, wenn in seiner Familie jemand krank ist oder so. Aber es ist dann selbstverständlich, solche privaten Aspekte nicht in die Öffentlichkeit zu tragen.
In diesem Jahr überträgt die ARD wieder die Tour de France. Eurosport verliert sein Alleinstellungsmerkmal, als einziger Sender live zu berichten. Wie denkst Du darüber?
Es ist gut, dass sie wieder übertragen. Es hilft unserem Sport. Die ARD erreicht Zuschauer, die Eurosport durch Fernsehgewohnheiten schlecht erreichen kann. Sie haben eigene Kamera-Teams, drehen zusätzliche Reportagen. Das ist gut. Bei Eurosport müssen wir uns nicht verstecken. Wir bieten ein besonderes Fachwissen, berichten zudem deutlich emotionaler, mit mehr Leben. Letztlich haben beide Herangehensweisen ihre Daseinsberechtigung.
Was erwartest Du aus sportlicher Sicht?
Ich hoffe, dass die Tour, die letztes Jahr schon sehr interessant war, so spannend verläuft wie der diesjährige Giro. Das war sportlich ein klasse Rennen! Tour-Favoriten gibt es viele, und dass schnell etwas passieren kann, haben wir letztes Jahr mit Froome und Contador gesehen. Wenn ich mich festlegen müsste, würde ich sagen, Quintana macht es dieses Jahr. Ein sehr sympathischer, bescheidener Fahrer, der aber genau weiß, was er will und nicht nur für sich, sondern ein ganzes Land, eine ganze Region fährt. Wir werden sehen.
Natürlich kommt das Gespräch irgendwann auch auf das Thema Doping. Ausdrücklich begrüßt Migels, wenn Fahrer wie Marcel Kittel, Tony Martin und John Degenkolb klar Stellung beziehen und sich eindeutig gegen Doping aussprechen. Die Leistungen eines John Degenkolb, der im Frühjahr von Sieg zu Sieg eilte, erscheinen ihm nicht unrealistisch. Degenkolb habe sich über Jahre hinweg verbessert und nähme sich auch immer wieder Auszeiten, in denen er gezielt regeneriere. Nichts desto trotz ist auch Migels vorsichtiger geworden.
Das Ausmaß des Dopings hat auch Dich überrascht?
Ja, auch wir Kommentatoren mussten dazu lernen. Man wollte manche Dinge nicht wahrhaben, gebe ich zu. Die Lösung ist aber nicht, sich abzuwenden. Ich trage dazu bei, dem professionellen Radsport weiterhin eine Bühne zu bieten, allerdings mit einer größeren Distanz. Wir setzen unser Fachwissen auch dazu ein, Leistungen einzuschätzen. Wir haben auch beim diesjährigen Giro in der Sendung darauf hingewiesen, wenn Leistungen ungewöhnlich waren. Das sind wir unserem Publikum schuldig.
Welche Leistungen waren ungewöhnlich?
Mikel Landa etwa ist mit Sicherheit kein schlechter Rennfahrer gewesen. Aber mit seiner Fähigkeit, urplötzlich Dritter der Gesamtwertung einer dreiwöchigen Rundfahrt zu werden und eine Etappe nach der nächsten zu gewinnen, hat er mich erstaunt, und alles weitere wird hoffentlich die Zukunft zeigen.
Für Dich persönlich ist die Faszination trotz allem ungebrochen?
Absolut. Ich sage es immer wieder: Gerade dem Erlebnis Tour de France kann man sich kaum entziehen. Wenn man das noch nicht erlebt hat, muss man einmal hinfahren und es sich anschauen. Am besten noch in den Bergen. Ich bin 1989 zum ersten Mal mit einem Freund in die Alpen gefahren. In Alpe d´Huez standen wir oben, schauten runter und diese Dramaturgie des Rennens, das Erlebnis als Zuschauer hat uns total fasziniert: Du stehst da und wartest mit tausend anderen Menschen, voller Vorfreude. Dann kommen erste Autos, die Werbekarawane. Motorräder fahren vorbei. Irgendwann hörst und siehst du die Hubschrauber, die sich nähern. Du weißt, jetzt sind die Fahrer am Berg. Weitere Autos und Motorräder kommen, und irgendwann siehst du tatsächlich einige Kehren weiter unten die ersten Fahrer. Der Lärm steigert sich immer weiter, bis sie an dir vorbeifahren. Dann bist du begeistert. Das geht gar nicht anders.
Wenig später bricht Migels auf, eine Moderation wartet. In wenigen Wochen reist er zu einer weiteren Tour de France – nicht zuletzt mit dem Ziel, seine Begeisterung für den Radsport in viele Wohnzimmer zu tragen.