Cyclist-Blog: 2015 könnte als das „Jahr der Stundenrekorde“ in Erinnerung bleiben, nachdem die UCI durch Regeländerungen kürzlich wieder Leben in diese klassische Disziplin gehaucht hat. Aus diesem Anlass wollten wir es einfach auch mal selbst versuchen.
Regeln sind Regeln
Den ersten aktenkundigen Stundenrekord hatte der Amerikaner Frank Dodd 1876 auf einem Penny Farthing aufgestellt. Er schaffte damals 26,508 km und ich hoffe, dass ich wenigstens ihn übertreffen werde. 1898 fiel dann schon die 40 km-Marke und 1972 stellte Eddie Merckx mit 49,431 km einen Rekord auf, der zwölf Jahre bestand haben sollte. In Anbetracht der kürzlich erfolgten Regeländerung des Stundenrekord-Reglements durch die UCI, scheint es, als könne man sich heutzutage schon glücklich schätzen, wenn der eigene Rekord zwölf Tage Bestand hat. Entgegen der Einfachheit des Konzepts (Fahr‘ in einer Stunde soweit du kannst!) wurden Versuche, den Stundenrekord zu brechen, von der UCI immer streng kontrolliert und auch gelegentlich verhindert. Sowohl Aerodynamik-Technologien als auch Sitzpositionen wurden beim Duell von Graham Obree und Chris Boardman Mitte der 90er-Jahre immer extremer. Der Höhepunkt dieser Entwicklung waren die unglaublichen 56,375 km, die Boardman 1996 in einer Stunde zurücklegte. Die UCI reagierte daraufhin mit der Lugano-Charta, einer Reihe von Regeln, die verhindern sollten, dass sich Radrennen zu einer ähnlichen Materialschlacht wie die Formel 1 entwickelten.
Das führte zum Ausschluss moderner Aerodynamikteile und zwang Fahrer dazu, traditionelle Fahrräder, Teile und Materialien zu nutzen, wie Merckx zu früheren Zeiten. Zusätzlich wurde der Rekord auf die 49,431 km-Bestmarke des Belgiers zurückgesetzt. Die Intention hinter diesen Änderungen war es eigentlich, den Fokus wieder auf die menschlichen Bemühungen zu richten. Doch mit Brian Cookson, der 2013 das Amt als UCI-Präsident übernahm, wurden diese Regeln jetzt wieder vereinheitlicht. Seit Mai 2014 gilt, jedes Equipment, das für Bahnrad-Ausdauerwettbewerbe zugelassen ist, kann für den Stundenrekord eingesetzt werden.
Seit dieser Änderungen gab es zahlreiche Versuche, einen neuen Rekord für Männer aufzustellen. Anfang Juni brach Bradley Wiggins diesen Rekord zuletzt, als er fantastische 54,526 km weit fuhr und die Messlatte für zukünftige Herausforderer extrem hochlegte.
Nur noch vier Wochen
Das gesteigerte Interesse an dieser prestigeträchtigen Disziplin führte zu hitzigen Diskussionen im Cyclist-Büro. Wie würde man im Vergleich zu den Großen des Sports abschneiden? Wir entschieden uns dafür, genau das herauszufinden – und da wir Cyclist sind, sagten wir uns: Wenn schon, denn schon. Das heißt, die richtige Ausrüstung, die richtige Vorbereitung und der richtige Ort. Nur dann würden wir wissen, wie es sich anfühlt, es wirklich versucht zu haben und wie man als normal Sterblicher im Vergleich zu den Profis abschneidet. Ich meldete mich sofort als Freiwilliger und setzte mich mit den Leuten in Kontakt, die mir sagen konnten, was da genau auf mich zukommt. Kurz darauf bereute ich meinen Enthusiasmus schon, als mir Bobridge sagte: „Du wirst noch sehen, wie schmerzhaft das ist. Aber es ist eine tolle Sache und es wird interessant zu sehen, wie du zurecht kommst. Viel Glück und häng’ dich rein, Kumpel!“
Ich habe in den Jahren schon einige wirklich verrückte Sachen auf dem Fahrrad erlebt, aber diese eine Stunde erfordert eine ganz andere Herangehensweise. Selbst im schwierigsten Rennen kann man mit einer suboptimalen Vorbereitung nochmal davonkommen. Es gibt Möglichkeiten, sich in der Gruppe zu verstecken, oder kleine Schwächen durch Gerissenheit wettzumachen. Beim Stundenrennen gibt es all diese Möglichkeiten nicht. Wenn du schlecht vorbereitet bist, ist das dein Risiko, es wird keine Chance geben, etwas wieder gutzumachen. Jede kleine Abweichung von der Ideallinie kostet dich Distanz, die du nicht mehr aufholen kannst. Jeder Rhythmusverlust, selbst kleine Kopfbewegungen, kosten dich in dem Moment vielleicht nur Bruchteile von Metern, diese multiplizieren sich aber Runde für Runde (ungefähr 210-mal, wenn man den Rekord brechen will). Merckx sagte damals, nach seinem Rekord 1972, dass er es noch nicht mal gewagt hätte zu blinzeln, so konzentriert sei er gewesen. Es sei der „ultimative Test, nicht nur für den Körper, auch für den Geist und verlange absoluten Einsatz, permanent und intensiv, und sei nicht vergleichbar mit einer anderen Disziplin“. Danach fügte er hinzu, dass er es nie wieder probieren würde.
Perfekte Vorbereitung
Es hat schon seine Vorteile, bei einem Radsport-Magazin zu arbeiten. Mit ein bisschen gutem Zureden meinerseits und Großzügigkeit von anderer Seite hatte ich schon bald Zutritt zu einem Weltklasse-Velodrome und einem Fahrrad, das auch in der Bat-Höhle nicht Fehl am Platz gewirkt hätte.
Als nächstes musste ich mir Gedanken darüber machen, wie ich in den verbleibenden vier Wochen für meine Stunde der Wahrheit in Form kommen wollte. Mein erster Anruf ging nach Silverstone, an das Porsche Human Performance Center, wo ich unter der Aufsicht von Sportphysiologe Jack Wilson einige Tests absolvieren musste, um meine Laktat-Schwelle herauszufinden. Danach könnte man genauere Vorhersagen darüber machen, zu was ich körperlich im Stande bin und wie ich mich bestmöglich auf die große Herausforderung vorbereiten könnte. Eine gute Möglichkeit, sein Leistungspotential auf der Bahn zu maximieren, ist es, seinen Luftwiderstand zu minimieren. Meine nächste Station war also die Kleidungsmanufaktur Sportful, die mir einen individuellen, aerodynamischen Rennanzug nähte. Danach ging es zu Morgan Lloyd von CycleFit in London, um sicherzugehen, dass mein Körper nicht schlapp macht. Was dann folgte, war ein umfassendes Test-Protokoll meiner Leistungswerte in verschiedenen aerodynamischen Fahrpositionen, inklusive Analyse dazu passender Helm-Designs. Meine letzte Anlaufstelle war Fußspezialist Mick Habgood, der mir individuelle orthopädische Einlagen anfertigte, um meine Leistung zu optimieren.
Die Aufregung zu sehen, wie all diese Puzzleteile sich nach und nach zu einem stimmigen Bild meiner Vorbereitung zusammenfügten, wurde aber von einem Gedanken getrübt: Wenn ich versagen sollte, dann könnte ich das nicht auf mein Equipment schieben. Ich versuchte mir einfach einzureden, dass ich an alles gedacht und nichts dem Zufall überlassen hatte.
Meine Stunde schlägt
Im Lee Valley Velodrome herrscht Totenstille. Alles wartet auf den Countdown der Startuhr. 5-4-3-2-1 … Los. Als ich in die Pedale trete, schießt das Blut durch meinen Kopf sowie meine Beine und ich versuche, meine Kurbel möglichst schnell auf Umdrehung zu bekommen. Ich fahre eine Übersetzung von 52/14, Rohan Dennis nutzte bei seinem Rekord massive 56/14. Als ich die Kurve erreiche, habe ich mein erstes Ziel geschafft: kein Sturz am Start. Ich höre den ersten Song meiner speziell zusammengestellten Playlist, die durch das leere Velodrome schallt. Sonst hört man nur das Rattern der Lightweight-Laufräder, während ich mich in meine aerodynamische Fahrposition begebe, sobald ich die erste Gerade erreicht habe. „Und jetzt konzentriere dich, Stu“, sage ich mir. „All die vielen Stunden Arbeit im Fitnessraum mit Blick auf die holzvertäfelte Tür, nur für diese eine Stunde.“ Ich bin schnell hypnotisiert von der schwarzen Bahnbegrenzungslinie und schon am Ende meiner zweiten Runde. Ich sehe die kleine Menschenmenge jubeln und meinen Coach, Rob Mortlock, ein iPad mit meiner Rundenzeit hochhalten: 19,2 Sekunden. Rob gibt mir zu verstehen, ich solle etwas ruhiger machen. Überambition zu diesem Zeitpunkt ist ein Anfängerfehler. In meinem Gespräch mit dem gerade erst übertrumpften Stundenrekordhalter Rohan Dennis sagte er mir: „Mach am Anfang nicht zu schnell, sonst kriegst du Probleme. Das ist eine ganz einfache Rechnung, wenn du zu hart anfängst, bist du schneller am Limit, als du sein musst. Entscheidend sind die ersten 15 bis 20 Minuten. Wenn du es richtig anstellst, wirst du bis 15 Minuten vor Schluss keine Schmerzen haben. Es wird vielleicht zwicken, aber nicht so, dass du deswegen langsamer fahren musst. Auf eine Art wird es sich sogar gut anfühlen, diesen Schmerz zu ertragen.“ Ich vertraue seinen Worten.
Die Runden verfliegen, jede wird mir von Rob angezeigt und ich halte mich wie besprochen an einen negativen Split – schneller in der zweiten Hälfte, als in der ersten – genau wie schon Jens Voigt bei seinem Rekord. 20 Minuten vorbei, so weit, so gut, bis auf meine untere Körperhälfte. Dennis hatte mir geraten, ich solle mir „Betäubungscreme besorgen“ und langsam merke ich, dass das kein Scherz war. Seit Minute 15 fühlt sich alles abwärts der Hüfte etwas unangenehm an. Wie in Trance blicke ich auf die schwarze Linie und ich merke, wie meine Aufmerksamkeit schwindet. Ich muss kämpfen, um fokussiert zu bleiben, nicht zuletzt, weil ich Angst habe, sonst gegen eine der Schaumstoffbegrenzungen zu fahren, die in den Innenseiten der Kurven stehen, um zu verhindern, dass Fahrer Kurven schneiden. Dennis erzählte mir von einem Zwischenfall, als er unkonzentriert war und im Training den Kurveneingang schnitt, sodass er im Anschluss die halbe Bahn hinauf katapultiert wurde und fast einen Herzinfarkt bekam.
30 Minuten sind vorbei – Halbzeit – ein wichtiger psychologischer Moment. Jede Minute vergrößert jetzt den Abstand zwischen dem, was ich schon hinter mir habe und dem, was noch vor mir liegt. 31 geschafft, nur noch 29; 32 geschafft, nur noch 28; 33 geschafft und nur noch 27. In dieser Phase helfen mir diese Gedanken sehr. Wie Storey und Dennis vorausgesagt haben, reiht sich jetzt Erschöpfungsphase an Erholungsphase, aber meine Rundenzeiten spiegeln das nicht wider. Nach 40 Minuten fahre ich immer noch Rundenzeiten wie ein Metronom und bin genau im angepeilten Zeitfenster. In Phasen, in denen es besonders weh tut, hilft es mir, mich auf meine Körperhaltung zu konzentrieren, mein Kinn oben zu halten und geschmeidig und präzise die Linie entlangzufahren. Storey riet mir: „Kontrolliere, was zu kontrollieren ist“, und das versuche ich.
Die letzten 20 Minuten brechen an, genau die Zeit, von der mir alle sagten, meine Welt würde langsam anfangen zu bröckeln. Aber ich fühle mich nicht so schlecht wie befürchtet. Ich warte nur darauf, dass meine Beine explodieren. „Konzentriere dich!“, ruft Rob und drängt mich dazu, jetzt nochmal das Tempo anzuziehen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass nur noch sieben Minuten zu fahren sind. Die fleißige Horde an Unterstützern ist mittlerweile rund um die Strecke verteilt, sodass ich von überall ermutigende Zurufe bekomme – gespickt mit Zuschauerjubel, den die Mitarbeiter des Velodromes netterweise über die Lautsprecher einspielen. Ich bekomme einen letzten Adrenalinschub, begünstigt durch Europes „The Final Countdown“ (was auch sonst?). Jetzt nur noch fünf Minuten! Ich beiße die Zähne zusammen und mobilisiere meine letzten Kräfte. Ich gebe wirklich alles in diesen letzten Minuten und dann klingelt plötzlich die Glocke. Dass die letzte Runde eingeläutet wird, erscheint mir merkwürdig, aber Rob erklärt mir im Anschluss, dass das nochmal den letzten Push geben soll, damit man nicht nachlässt und die Runde mit voller Kraft zu Ende fährt.
Ich bin erschöpft, körperlich und geistig ausgelaugt – einfach froh, dass es vorbei ist. Als ich zum Stehen komme, völlig durchnässt von Schweiß und Speichel, blicke ich auf die Anzeigetafel und sehe, dass ich mein Ziel nur um 250 m verfehlt habe. 44,750 km, genau eine Runde weniger als die angepeilten 45 km. Ich bin total zufrieden. In diesem Moment habe ich gar kein Bedürfnis, diese Leistung irgendwann nochmal zu verbessern. Viele Athleten haben diese Stunde als längste ihres Lebens bezeichnet, aber ich bin fast enttäuscht, dass alles vorbei ist. Als ich nach Minuten wieder zu Atem gekommen bin, erwische ich mich dabei, wie ich darüber nachdenke, wo ich mich noch verbessern könnte – meine Körperhaltung, meine Form, meine Taktik, eventuell eine andere Übersetzung. Vielleicht komme ich eines Tages zurück.