Test: Mit dem Marin Wolf Ridge hatten wir eines der ungewöhnlichsten Mountainbikes der vergangenen Jahre im Test. Ein radikal anderer Hinterbau trifft auf einen optisch einzigartigen Carbonrahmen und edle Anbauteile. Laut den Kaliforniern soll das 160mm Fully klettern wie eine XC Feile und abfahren wie ein Enduro. Klingt zu gut um wahr zu sein? Was dran ist, erfahrt ihr im Test.
Das Marin Wolf Ridge war bei seiner ersten Vorstellung im Frühjahr diesen Jahres in aller Munde. Wieso? Nun, lange ist es her, dass ein Hersteller – insbesondere einer mit einer langen Tradition wie Marin – bei einem Fully auf einen grundsätzlich neuen Hinterbau setzte. 95% der erhältlichen Fullies basieren entweder auf klassischen Viergelenkern mit Horst Link, auf Virtual Pivot Point Konstruktionen, oder auf (abgestützten) Eingelenkern. Man hat sich daran gewöhnt, doch das war nicht immer so: In den frühen Jahren des Mountainbikesports wurde hier noch deutlich mehr experimentiert, der Mut zum Risiko war größer und nur so haben wir die Hinterbauten bekommen, die heute in den meisten Bikes so gut funktionieren.
Insofern mutet das Marin Wolf Ridge bezüglich seines Ansatzes fast schon nostalgisch an: Man muss sich als MTB-Freak doch einmal kurz schütteln, wenn man ein so grundsätzlich anderes Bike vor Augen hat. Bevor wir aber nun auf das zweifellos größte Highlight eingehen, zunächst einmal einige Randdaten zum Wolf Ridge: Mit 29″ Laufrädern und 160mm Federweg scheint das kalifornische Carbonfully voll im Zeitgeist der langhubigen 29er zu liegen, die den Markt mehr und mehr erobern. Mit der Geometrie – langer Hauptrahmen trifft hier auf kurze Streben – scheint man in eine ähnliche Kerbe zu schlagen.
Man sollte sich hier jedoch nicht von den technischen Daten auf dem Papier blenden lassen. Denn klar, angesichts des großen Federwegs, der Ausstattung mit potentem Fahrwerk und griffigen Reifen ist man gewillt das Wolf Ridge sofort in die Enduro Schublade zu packen und diese direkt zuzuschieben. Doch stopp – das wäre nämlich ein gewaltiger Fehler und würde der Besonderheit des neuen Marin Bikes nicht gerecht werden. Seitens des Traditionsherstellers betont man nämlich, dass das Wolf Ridge die Ketten der Mountainbike-Kategorien sprengt. Crosscountry, Trail, Enduro, All Mountain – egal! Das Wolf Ridge ist ein Mountainbike und soll sich in all diesen Kategorien wohlfühlen und entsprechend dort auch mit vergleichbaren Bikes mithalten können. Verantwortlich dafür soll insbesondere der revolutionäre Naild R3ACT 2PLAY Hinterbau sein – natürlich wollen wir uns diesen deshalb genauer ansehen.
Marin Wolf Ridge: Naild R3ACT 2Play Hinterbau – Das nächste Level?
Der R3ACT 2Play Hinterbau stammt aus der Feder von Darrell Voss und seines Teams bei Naild. Wem die Optik bekannt vorkommt und sich fragt, wo er das schon einmal gesehen hat – er kommt auch im ebenfalls im Frühjahr vorgestellten Polygon Square ONE zum Einsatz. Doch wieso überhaupt ein schon gut funktionierendes System über den Haufen werfen und komplett neue Wege gehen? Eines der entscheidenden Argumente für den R3ACT Hinterbau ist der Umstand, dass er vom ersten Moment an für Mountainbikes konzipiert wurde. Die bekannten Kinematiken basieren hingegen in den meisten Fällen auf abgewandelten Prinzipien, die man von Motorrädern kennt, obwohl die Ansprüche und Voraussetzungen beim MTB andere sind.
Doch genug um den heißen Brei gelabert, schauen wir uns das Schmuckstück des Wolf Ridge genauer an. Der gesamte Hinterbau bewegt sich auf einem vor dem Tretlager sitzenden Teleskopslider vor und zurück. Eine gelagerte Verstrebung (Crosslink) führt hierbei die Monostay Strebe. Der Dämpfer selbst ist über ein schon fast klassisch anmutendes Yoke direkt mit dem Hinterbau verbunden. Ohne an dieser Stelle zu tief in das Thema einsteigen zu wollen, sei das Funktionsprinzip dennoch kurz umrissen; aus diesem innovativen Hinterbaukonzept resultiert ein hoher und über den gesamten Federweg konsistenter Anti-Squat Wert. Anti-Squat ist die Kraft, die während des Pedalierens verhindert, dass sich der Hinterbau komprimiert, ist also dafür verantwortlich das so gefürchtete Wippen zu unterbinden. So braucht man beispielsweise beim Dämpfer im Wolf Ridge laut Marin kaum Druckstufe und Plattform oder gar Lockouts werden obsolet, da sich das Bike auch so komplett neutral verhält.
Wieso bisher noch niemand auf diese Idee gekommen ist? Nun gut, viel Anti-Squat führt in der Regel zu einem eher bockigen Hinterbau mit wenig Sensibilität vor allem bei kleineren und mittleren Stößen. Klar versprechen Naild bzw. Marin, dass das beim Wolf Ridge nicht der Fall ist – da hilft letzten Endes nur eine Probefahrt, um dem Bike auf den Zahn zu fühlen.
Unabhängig davon, wie gut die Funktion des Hinterbaus ist, hat die Konstruktion gegenüber herkömmlichen Lösungen jedoch einen kleinen Nachteil: Der Teleskopslider funktioniert wie eine sehr simple Federgabel – darin sitzen auch Dichtungen und ein wenig Schmieröl. Ab und an ist hier also eine Wartung fällig. Diese ist zwar denkbar einfach und beschränkt sich in der Regel auf eine rudimentäre Reinigung und gegebenenfalls auf das Nachfüllen von Öl, muss aber erledigt werden, um eine tadellose Funktion zu gewährleisten.
Marin Wolf Ridge: Rahmen und Geometrie
Okay, sprechen wir direkt über den sprichwörtlichen Elefant im Raum – das Wolf Ridge schaut eigenwillig aus. Beim Carbonrahmen stechen nicht etwa die kantigen Rohre oder die äußerst gelungene Lackierung mit einem feinen Farbverlauf ins Auge, sondern der wuchtige Tretlagerbereich, die mächtige, hochgezogene Kettenstrebe und natürlich der Hinterbau als Ganzes. Keine Frage: An der Optik scheiden sich auch einige Monate nach der ersten Präsentation des neuen 160mm Fullies die Geister. Selten passte wohl die Redewendung ‚Love it or hate it‘ besser als beim Wolf Ridge.
Über die Optik lässt sich also herrlich streiten – oder eben auch nicht. Woran es jedoch keinen Zweifel gibt, ist die Liebe zum Detail, die hier bei der Konstruktion des Carbonrahmens eingeflossen ist. Das beginnt schon bei der internen Zugverlegung, die angesichts der besonderen Rahmenform durchaus eine Herausforderung ist. Panels am Steuerrohr lassen sich je nach verwendetem Setup wechseln, zudem erhält man nach dem Herausschrauben eine große Öffnung, durch die sich die Leitungen bequem nach außen führen lassen. Vom Hauptrahmen zur Monostay laufen die Züge für einige Zentimeter außerhalb, parallel zum Crosslink. Insgesamt eine optisch äußerst gelungene Lösung. Neben klassischen Schaltungen ist das Wolf Ridge auch für elektronische Di2 Antriebe vorbereitet. Für einen Umwerfer ist jedoch kein Platz.
Wichtig, aber leider immer noch nicht bei allen Mountainbikes Standard, ist der Kunststoffbumper unter dem Tretlagerbereich, um das gegenüber spitzen Einschlägen empfindliche Carbon vor herumwirbelnden Steinen zu schützen. Einen ähnlichen Zweck erfüllt der Fender bzw. das kurze Schutzblech am Hinterrad, das das Sitzrohr vor Dreck und Steinchen schützt.
Marin Wolf Ridge Geometrie
S | M | L | XL | |
Sitzrohr (in mm) | 390 | 420 | 465 | 525 |
Oberrohr horizontal (in mm) | 575 | 595 | 620 | 638 |
Steuerrohr (in mm) | 90 | 90 | 100 | 125 |
Kettenstrebe (in mm) | 435 | 435 | 435 | 435 |
Radstand (in mm) | 1154 | 1174 | 1206 | 1229 |
Lenkwinkel (in °) | 66.5 | 66.5 | 66.5 | 66.5 |
Sitzwinkel (in °) | 73.5 | 73.5 | 73.5 | 73.5 |
Reach (in mm) | 415 | 435 | 462 | 476 |
Stack (in mm) | 626 | 626 | 636 | 659 |
Würde man die Geometriedaten des Wolf Ridge blind lesen, ohne zu wissen, womit man es zu tun hat – die meisten würden wahrscheinlich auf ein modernes Trailbike tippen. Der Hauptrahmen ist lang, die Strebe(n) mit 435mm für einen 29er erfreulich kurz und der Lenkwinkel fällt mit 66.5° zwar flach, aber nicht Enduro-flach aus. Ein wenig aus der Reihe fällt der verhältnismäßig flache Sitzwinkel – hier geht der Trend derzeit eher in die andere Richtung, um den Fahrer in eine effiziente Fahrposition zu rücken. Die besondere Kinematik erfordert es am Wolf Ridge jedoch, den Fahrer etwas weiter nach hinten zu rücken, um maximale Effektivität und ein ausbalanciertes Fahrverhalten zu bekommen.
Marin Wolf Ridge: Ausstattungen, Modelle und Preise
Unser Testrad kam nicht mit Serienausstattung, weshalb wir an dieser Stelle nur einige kurze Worte zu den bald verfügbaren Modellen verlieren möchten. Zunächst wird das Wolf Ridge hierzulande in zwei Ausstattungsvarianten erhältlich sein, die sich den Carbonrahmen teilen, der sich lediglich in der Farbgebung etwas unterscheidet. Das Topmodell Wolf Ridge Pro lässt mit XX1 Eagle, FOX Factory Fahrwerk und Carbonlaufrädern von e*thirteen wahrlich nur wenig zu wünschen übrig und dürfte die Herzen vieler MTB-Fans höher schlagen lassen. Der Preis ist jedoch entsprechend: In den USA muss man $8.599 berappen, der Preis hierzulande steht noch nicht final fest, dürfte aber in vergleichbaren Sphären liegen.
Ein wenig günstiger gelingt der Einstieg in die R3ACT-Welt mit dem Wolf Ridge 8, das mit $5.199 zu Buche schlägt und unter anderem mit der neuen SRAM GX Eagle Gruppe daherkommt. Beim Fahrwerk vertraut man hier auf RockShox mit einer Kombination aus Lyrik vorn und Monarch DebonAir hinten, die Stan’s NoTubes Flow MK3 Laufräder sind robust und dennoch nicht zu schwer.
Beide Ausstattungsvarianten werden hierzulande Ende Sommer/Anfang Herbst verfügbar sein.
Marin Wolf Ridge: Auf dem Trail
Es ist wirklich lange her, dass wir mit so viel Spannung auf einen Bike Platz genommen haben wie auf dem Marin Wolf Ridge. Klar, das liegt natürlich unter anderem auch an den vollmundigen Versprechen der Konstrukteure: Ein Bike, das bergauf geht wie eine Rennfeile und danach im Downhill Enduro-Feeling versprüht? Das klingt zu gut um wahr zu sein und weckt neben gesunden Zweifeln natürlich auch unsere Neugier. Interessant ist jedoch bereits das Setup des Wolf Ridge: Mit nur ganz wenig zugeschalteter Druckstufe im Dämpfer machen wir unseren ersten Testausflug am Gardasee. Bei jedem anderen modernen Fully würde uns der Dämpfer so bei kraftvollen Antritten oder im Uphill gnadenlos wegsacken.
Ganz ehrlich: Schon die ersten Meter auf der Straße in Richtung Traileinstieg kamen einem Aha-Erlebnis gleich: Immer wieder kontrollierten wir ungläubig die Dämpfereinstellung, ob nicht doch irgendwie der Lockout drin ist. Wieso? Weil sich der Dämpfer auch bei starken Antritten und selbst im Wiegetritt kaum rührte. Nix. Nada. Niente. Nothing. Und das bei kaum Druckstufe! Eigentlich unfassbar. Da hatten wir schon XC Fullies unter dem Hintern, die weniger effizient arbeiteten.
Die Sitzposition ist übrigens modern und schön zentral, gleichzeitig aber nicht zu sportlich. Die doch recht hohe Front rückt den Fahrer in eine ziemlich aufrechte Position und macht das Wolf Ridge so durchaus auch zu einem geeigneten Begleiter für etwas längere Touren, ohne dabei zu sehr den Rücken zu beanspruchen. Doch klar: Im Normalfall macht sich eine so hohe Front genau wie der angesprochene, straffe Hinterbau auf dem Trail negativ bemerkbar. Auch beim Marin Wolf Ridge?
Der positive Eindruck vom Hinterbau verstärkte sich in puncto Kletterfähigkeit sogar noch weiter, als wir endlich das lose Geröll und die spitzen Steine des Gardasees unter die Reifen bekamen. Es fühlt sich während des Fahrens beinahe so an, als würde der Hinterbau uns beim Überwinden von Hindernissen nach vorn drücken. Das Gefühl ist wahrlich schwer zu beschreiben, auch weil wir so etwas bisher noch von einem anderen Bike kannten. Jede Erhebung quittiert das Marin Bike mit einem kurzen Push nach vorn und klettert damit zwar anfangs ungewohnt, aber enorm flink und kraftschonend. Zugegeben: Das ungewohnte Fahrgefühl braucht etwas Zeit, bis man sich daran gewöhnt hat. Es ist nicht unangenehm, aber man muss seinen Rythmus etwas umstellen, um den unbändigen Vortrieb auch nutzen zu können.
Dass das Marin Wolf Ridge nicht ganz so gut klettert, wie ein echtes XC-Bike ist – trotz aller Marketingversprechen – jedoch auch klar und bei genauerem Hinsehen auch nachvollziehbar: Trotz Carbonrahmen zählt es nicht unbedingt zu den Leichtgewichten auf dem Markt, die potenten Reifen rollen schlicht nicht so gut wie schmale Racepellen und bei aller Effizienz des Hinterbaus schluckt auch die 160mm Gabel an der Front das eine oder andere Watt. Dennoch: Für ein Rad dieser Federwegsklasse gibt es hier derzeit wohl nichts besseres auf dem Markt. Ebenfalls überrascht waren wir davon, dass die Front auch an steilen Rampen keinerlei Anstalten machte, sich vom Untergrund zu lösen. Trotz des kurzen Hecks und der hohen Front!
Wie sieht es also bei der zweiten Köningsdisziplin aus – wie schlägt sich der Hinterbau, wenn es nach unten über das anspruchsvolle, verblockte Gelände in Norditalien geht? Zunächst fällt auf, wie angenehm ruhig das Bike auf dem Trail liegt, im wörtlichen wie im übertragenden Sinne. Obwohl die Kettenstreben recht kurz ausfallen, weiß das Bike mit großer Laufruhe zu gefallen und hält brav die Spur, auch wenn die Linienwahl mal nicht optimal ist.
Wird es dann noch eine Spur gröber, die Stufen höher und die Kurven enger, stoßen wir erstmals ein wenig an die Grenzen des kalifornischen Carbon-Allrounders. Der Hinterbau arbeitet zwar aktiv, zuverlässig und berechenbar, bleibt aber doch eher straff und kann nicht ganz mit der Creme de la Creme der Federwegsklasse um 160mm mithalten. Doch wir erinnern uns an die Worte, die man uns seitens Marin auf den Weg gab: Man muss sich beim Wolf Ridge von diesen Schubladen lösen, an die wir uns gewöhnt haben – und das Bike ist zweifellos alles andere als ein schlechter Abfahrer, steckt sogar das eine oder andere Enduro in die Tasche und muss sich keinesfalls verstecken. Nach der bisher jedoch wirklich umwerfenden Performance zeigt sich hier jedoch, dass auch das Marin Wolf Ridge die Gesetze der Physik nicht ganz aushebeln kann.