Test Canyon Grail: Das erste Gravelbike der Koblenzer setzt mit seinem ungewöhnlichen Lenker ein Ausrufezeichen. Stimmt auch die Performance? Velomotion hat’s am Beispiel des Canyon Grail CF SL 8.0 ausprobiert.
Kaum ist man davon überzeugt, das Rennrad sei „ausentwickelt“ und biete keinen Raum mehr für bahnbrechende Neuheiten, prescht ein Hersteller vor und präsentiert etwas, das man sich nie hätte träumen lassen. Diesmal ist es Canyon mit dem Grail – ein Gravelbike, das durch seinen extrem eigenständigen Lenker deutlich mehr Vibrationsdämpfung bieten soll. Das klingt spannend, zumal die Koblenzer in Sachen Fahrkomfort schon jetzt viel zu bieten haben: Selbst die aerodynamisch optimierten Bikes der Marke rollen erstaunlich sanft über Unebenheiten hinweg; flexende bis federnde Sattelstützen verleihen den Rennmaschinen und Crossern einen Komfort, der seinesgleichen sucht.
Mit der neuen Baureihe „Grail“ führen die Koblenzer das weiter, was sie bereits im Rennrad-Bereich praktizieren: eine Trennung zwischen „Race“ und „Endurance“, bei den Straßenrädern repräsentiert durch Aeroad und Ultimate auf der einen und Endurace auf der anderen Seite. Fürs Gelände gibt es die auf sechs Modelle erweiterte Inflite-Reihe mit reinrassigen Crossern – und eben die sechs Grail-Varianten, sportliche Tourenbikes fürs Gelände mit geringerer Sattelüberhöhung und längerem Radstand, die mit 50/34er Kompakt-Kettenblättern auch auf der Straße eingesetzt werden können. Eine 1×11-Variante des Grail gibt es nicht – Canyon folgt der Philosophie, dass ein Gravelbike auch voll straßentauglich sein muss und daher einer feinen Abstufung bedarf (was in diesem Fall 11-34 mit acht Zweierschritten und zwei größeren Sprüngen heißt).
Canyon Grail: Gravel Cockpit CF
Was ist das Besondere am Grail? Klar der in zwei Ebenen aufgebaute Lenker, genannt „Gravel Cockpit CF“, der wie folgt beschrieben werden kann: Man stelle sich einen Carbon-Rennlenker vor, der nicht in der Mitte des Oberlenkers geklemmt ist, sondern auf halber Höhe des Lenkerbogens über einen Querholm verfügt, der wiederum eine Einheit mit dem Vorbau bildet. Der Oberlenker schwebt also, etwas nach hinten versetzt, frei überm Vorbau; er ist abgeflacht und in der Mitte so dünn, dass er sich bei Belastung durchbiegen soll. Flex am Oberlenker ist das Zauberwort; etwas, das beim normalen Rennlenker weitgehend ausgeschlossen ist, da dieser ja mittig vom Vorbau gehalten wird. Federn kann er also nur weit außen, am Bremsgriff oder am Lenkerbogen.
Drückt man den Oberlenker nach unten, wird seine Elastizität sofort spürbar; auch bei Druck oder Zug am Unterlenker verschieben sich die zwei Ebenen des Lenkers gegeneinander. Packt man den Lenker an den unteren Enden, lässt er sich leicht gegen den unteren Querholm verdrehen, was ebenfalls für eine gewisse Flexibilität spricht. Der untere Bereich dient übrigens nicht zum Festhalten und lässt sich mit den Händen auch nur mühevoll erreichen. Nur seine Enden dienen als Auflagefläche, wie das Lenkerband an dieser Stelle zeigt – doch dazu später mehr.
Canyon Grail: Das Design
Canyon montiert den Doppellenker an ein markentypisch matt lackiertes, glattflächiges Bike, das vor allem im Bereich des Lenkkopfs ungewöhnlich gestaltet ist. Der Vorbau nämlich schließt glatt mit dem Oberohr ab, was eine sehr elegante Silhouette ergibt, den Lenkeinschlag allerdings auf knapp 90° beschränkt. Bei Canyon gibt’s das bereits am schnittigen Stadtrad Urban 8.0 sowie den Triathlon-Modellen; der französischer Rahmenbauer Look setzt schon seit Jahren auf dieses Design. So ließe sich auch ein Straßenrenner oder ein Querfeldeinrad gestalten; als Gravelbike outet sich das Grail durch die 40er Reifen und einen Durchlauf, der auch etwas breitere Pneus durchlässt. Anbau- und Montagestandards entsprechen dem aktuellen Stand: Züge und Leitungen treten früh in den Rahmen ein und spät wieder hinaus; sehr gute Steckachsen, Flatmount-Bremssockel und integriertes Innenlager sind bei Canyon ohnehin selbstverständlich. So entsteht ein harmonisches Gesamtbild, das durchs zurückhaltende Dekor noch betont wird.
Canyon Grail: Geometrie
Auch in Sachen Bemaßung macht sich der Bügel bemerkbar. Statt Stack und Reach finden sich in der Geometrietabelle die Einheiten „Stack+“ und „Reach+“; gemeint sind damit die vertikale und horizontale Distanz von der Tretlagermitte bis zum oberen Lenkerholm. Da der Vorbau glatt mit dem Oberrohr abschließt, würden sich Stack und Reach ausgehend von der Schraube des Vorbaudeckels eigentlich auch konventionell festlegen lassen. Dann ergeben sich Werte, die in Sachen Sitzlänge einem ebenfalls XL-großen Canyon Inflite nahekommen; der Stack ist knapp 3 cm größer als beim Crosser. Dazu kommen etwa 6 cm Höhe vom Vorbaudeckel bis zum Oberlenker und ca. 8 cm Vorlagerung – das, was sonst die Vorbaulänge ist.
Die neuen Einheiten „Stack+“ und „Reach+“ erschweren die Vergleichbarkeit mit anderen Rädern im Canyon-Programm; ihr Vorteil ist freilich, dass sie exakt die Position des Lenkers in Relation zum Tretlager angeben. Das ist wichtig, da der Bügel des Grail keinerlei Verstellmöglichkeiten zulässt. Bei sieben Rahmengrößen liegen die Sprünge bei Sitzlänge und Lenkerhöhe im Bereich von 2 cm; der größte Unterschied sind 27 mm Höhendifferenz von M zu L. Angesichts der insgesamt eher aufrechten Sitzhaltung und der Tatsache, dass dies kein Wettkampfrad ist, das millimetergenau passen muss, geht das in Ordnung. Mittelfristig will Canyon die neuen Maßeinheiten aufs gesamte Modellprogramm ausweiten, um die Vergleichbarkeit untereinander zu gewährleisten.
Canyon Grail 2018
XXS | XS | S | M | L | XL | XXL | |
Sitzrohr (in mm) | 432 | 462 | 492 | 522 | 552 | 582 | 612 |
Sitzhöhe (in mm) | 627-727 | 657-757 | 687-787 | 717-817 | 747-847 | 777-877 | 807-907 |
Kettenstrebe (in mm) | 415 | 415 | 425 | 425 | 425 | 425 | 425 |
Radstand (in mm) | 988 | 990 | 1020 | 1029 | 1040 | 1063 | 1073 |
Lenkwinkel (in °) | 70,25 | 71,25 | 71,0 | 72,5 | 72,5 | 72,5 | 72,5 |
Sitzwinkel (in °) | 73,5 | 73,5 | 73,5 | 73,5 | 73,5 | 73,5 | 73,5 |
Reach (in mm) | 401 | 422 | 439 | 458 | 475 | 494 | 513 |
Stack (in mm) | 594 | 615 | 638 | 660 | 687 | 708 | 728 |
Canyon Grail: Ausstattung
Canyon stattet das Testrad – ein Grail CF SL 8.0 – so hochwertig aus, dass man auf den ersten Blick keine klare Preisvorstellung hat. Komplette Shimano Ultegra R8000, hochwertige, für Reifenbreiten ab 28 mm optimierte DT-Swiss-Laufräder, ein 150-Euro-Sattel, dazu der innovative Lenker – würde jemand „4.000“ sagen, wäre das durchaus glaubhaft. Doch unser Grail ist mit schlanken 2.599 Euro gelistet, hängt dazu mit knapp 8,6 Kilo (ohne Pedale) an der Waage. Das sind Werte, die erfreuen und das Rad attraktiv machen, zumal es, wie wir bald feststellen können, überragende Fahreigenschaften bietet.
Canyon Grail: Auf dem Trail
Mit 2,5 bar in den 40er Schlappen machen wir uns zunächst über Asphalt zu unserer Standard-Crossrunde auf; die bietet nämlich alle Arten holperiger Untergründe – Kieswege, alle Spielarten von Schotter und natürlich wurzelige Trails, Löcher und Hindernisse satt. Auf der Straße fällt sofort auf, wie leicht die recht griffig profilierten Schwalbe G-One Bite rollen; ebenfalls ein Augenöffner sind Beschleunigung und Lenkverhalten des Grail. Das Bike kommt sofort in Schwung, lässt sich willig in die Kurve legen und ist weitaus handlicher, als der 106 cm lange Radstand erwarten lässt. Im Wiegetritt tänzelt das Rad nur so bergauf – kurz, das Handling ist super, auch wenn für den Test nur ein mindestens eine Nummer zu großes Rad zur Verfügung stand.
Es naht die erste Offroad-Passage und damit eine Antwort darauf, wie stark das Gravel Cockpit denn nun flext. Erst einmal müssen wir uns in Bremsgriffhaltung und im Wiegetritt ein wurzeliges Steilstück hochwuchten, dass bereits von den überzeugenden Eigenschaften der Bereifung kündet. Unebenheiten werden von den 40ern quasi aufgesaugt, und angesichts des großen Volumens und der breiten Felgen muss man auch vor Durchschlägen keine Angst haben. Auf Tubeless umrüsten kann man sowieso – der von Canyon mitentwickelte Schwalbe G-One Bite braucht dazu nur Ventileinsätze und etwas Dichtmilch.
Das Canyon Grail beweist seinen hohen Fahrkomfort durch sicheres, lebendiges Handling
Jetzt aber scharfkantiger Schotter, hier und da mit Schlaglöchern und Asphaltresten gewürzt. Oberlenker, Bremsgriffhaltung, Unterlenker; im Sitzen, im Wiegetritt am Oberlenker – wo die Hände hinwandern, sind in Maßen Stöße und Vibrationen spürbar; merkliche Unterschiede zwischen den Griffhaltungen lassen sich nicht feststellen. Hinten flext derweil die exzellente Canyon-Sattelstütze. Hart ist das Grail auf keinen Fall, ganz im Gegenteil – auch im weiteren Verlauf der Tour beweist es seinen hohen Fahrkomfort, gepaart mit sicherem, lebendigen Handling. Doch dass der Oberlenker am Komfort besonderen Anteil hat und stärker dämpft als etwa mit den Händen auf den Griffen, ist nicht zu spüren.
Das ist erst einmal ernüchternd, bei näherem Hinsehen aber vielleicht auch kein Wunder. Los geht es schon mit der Sitzposition auf dem Gravelbike: Die Überhöhung zwischen Lenker und Sattel beträgt nur wenige Zentimeter, die Sitzlänge ist dabei recht groß; umgreift man den Oberlenker, lastet wenig Gewicht auf den Händen. Fahrbahnstöße werden zum Teil vom Reifen absorbiert, aber ebenfalls von den locker gehaltenen Armen; dazwischen befindet sich der Oberlenker, dessen Nachgiebigkeit im Vergleich zu Bereifung und Extremitäten nicht sonderlich groß ausfällt. Bei einem kleineren Rad – für den Test stand uns das Grail in XL zur Verfügung – mit mehr Gewicht auf den Händen könnte die Sache anders aussehen; allerdings kommt uns der Oberlenker auch dann nicht übermäßig flexibel vor, als wir mit viel Druck auf den Händen im Stehen fahren.
Glauben mag man dennoch, dass das Gravel Cockpit jenes Vibrations-Grundrauschen dämpft, das vom Fahrer nicht bewusst wahrgenommen wird, sich auf Dauer in Form von Ermüdung und Missempfindungen bemerkbar macht. In jedem Fall kann das Grail im Direkten Vergleich mit dem redaktionseigenen Crosser ein merkliches Komfort-Plus für sich verbuchen – besonders natürlich an der Sattelstütze. Auf einer längeren Passage mit vibrationsfördernden Beton-Gittersteinen gibt sich das Grail insgesamt geschmeidiger; das Gesamtkonzept eines komfortablen Langstrecken-Geländerenners geht auf.
Ohnehin muss man sich beim Gravelbike von herkömmlichen Konzepten lösen und den Einsatzzweck der jungen Gattung bedenken. Beim Grail betrifft das wiederum den Lenker: Lenkerbogen und unterer Querholm treffen dergestalt aufeinander, dass klassisches Unterlenkerfahren nicht ohne weiteres möglich ist. Greift man den Lenker an den Enden, kann man die Bremshebel kaum erreichen – muss man aber auch nicht, denn beim Gravelbike nutzt man diese Position nicht im engen Pulk eines Rennens, sondern auf langen, einsamen Schottergeraden im Gegenwind. Greift man den Unterlenker so, dass die Finger an den Bremsgriffen liegen, muss man den Daumen über dem Querholm legen. Damit das einigermaßen komfortabel ist, sollte man eine sehr flache Haltung mit annähernd waagerechten Unterarmen einnehmen, sonst werden die Daumen stark nach oben gebogen. Auch hier kann man einwenden, dass diese Position beim Gravelbike die Ausnahme ist – man nutzt sie vielleicht auf kurzen, sehr steilen Gefällepassagen.
Was ist zu halten vom Canyon Grail? Gravel-Fans werden sich darüber freuen, dass sich die Koblenzer dieses Segments annehmen und auch in den mittleren Preislagen auf Anhieb extrem hochwertige, toll fahrbare Modelle anbieten. Wie gesehen, kann unser Test-Grail rundum überzeugen; dass das Gravel Cockpit im Test nicht das halten konnte, was es verspricht, kann man angesichts des insgesamt hohen Komforts verschmerzen. Und was den Unterlenker angeht, darf man nicht den besondern Einsatzzweck des Gravelbikes aus den Augen verlieren. Letztlich müssen sich die Freunde langer Geländetouren nur an die ungewohnte Optik herantasten; die Fahreigenschaften des Grail werden sie auf Anhieb lieben.
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