Test Scott Addict Gravel 10: Crossrahmen plus Rennrad-Komponentengruppe ergibt Gravelbike? Beim Scott Addict Gravel 10 geht diese Rechnung auf. Das Top-Gravelbike der Schweizer Marke ist schnell und handlich und dabei so offroad-tauglich, wie es sich Straßenfahrer nur wünschen können.
Als innovative Sportmarke setzt Scott selbstverständlich auf die neuen Trends der Fahrradbranche. Gravel nimmt im Portfolio schon seit fünf Jahren eine zentrale Position ein, und inzwischen ist das Segment so wichtig geworden, dass die Gravelbikes alle Cyclocross-Modelle bis auf eines aus dem Sortiment verdrängt haben. Das ist ein bisschen unfair von ihnen, verdanken sie dem Querfeldeinrad doch viel: das Rahmenset zum Beispiel, das vom Crosser kommt und seit Jahren weitgehend unverändert im Programm ist.
Daraus ergibt sich bereits, dass das Scott-Gravelbike ausgesprochen sportlich ausgelegt ist. Vergleicht man seine Geometrie mit den Straßenrädern der Marke, zeigt sich, dass es bei Stack und Reach ziemlich genau zwischen der reinrassigen Rennmaschine Addict RC und dem Endurance-Rennrad Addict liegt. Und das macht neugierig, denn damit bietet sich das Addict Gravel 10 gerade Rennradfahrern an, die ein Bike suchen, das ohne große Kompromisse bei Handling und Sitzhaltung mehr Freiheit bei der Streckenwahl lässt. Bikepacker hingegen dürften die Gewindeösen vermissen, die sie auf Touren für ihr Zubehör benötigen. Sie werden bei Scott höchstens mit dem Alu-Modell Speedster Gravel glücklich, das in Sachen Sitzgeometrie exakt dem Endurance-Renner Addict entspricht.
Sportlicher Charakter des Scott Addict Gravel 10
Seinen sportlichen Charakter sieht man dem Gravel 10 auf den ersten Blick an. Das Oberrohr fällt merklich ab, woraus sich ein starker Stützenauszug ergibt; das Steuerrohr ist eher kurz und der Vorbau lang. Der Rahmen ist wie gesagt ein alter Bekannter und schon seit Jahren auf dem Markt; diesem Umstand ist es auch zu verdanken, dass noch eine klassische Sattelklemmschelle zum Einsatz kommt – eine schlichte, aber funktionell nach wie vor optimale Lösung. Die Bremsleitungen sind selbstverständlich innenverlegt, und Schaltzüge gibt es am Testrad mit Sram Force AXS nicht. Ins breite Pressfit-Tretlagergehäuse passen die Kurbelsätze aller relevanten Anbieter, und der Flatmount-Sockel für die Bremsen ist beim Scott-Offroader schon seit Jahren Standard.
Edel und sportlich ist die Komplettierung dieses Gravellers. Sram steuert wie gesagt die elektronische Force mit 2×12 Gängen bei, und schon hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu vielen anderen Gravelbikes: Mit 10-33 ist die Kassette eher eng abgestuft; dazu kommt jedoch die 46/33er Kurbel, sodass eine Eins-zu-eins-Übersetzung an Bord ist. Steilstücke lassen sich mit dem Addict also durchaus meistern, und für schnelle Bergab-Passagen auf Asphalt steht mit 48-11 ein mehr als ausreichend lang übersetzter Gang zur Verfügung. Von der Scott-Eigenmarke Syncros stammen Laufräder, Flare-Lenker und Sattelstütze, allesamt aus Carbon; Schwalbe gibt 35er G-One Allround TLE dazu.
Überhöhung wie am Rennrad
Von einem Offroader für schweres Gelände ist das Scott damit weit entfernt, stattdessen ziemlich nah am Rennrad, und das zeigt sich schon auf den ersten Metern der Testrunde. Die Sitzhaltung ist gestreckt und bietet ordentlich Überhöhung, dabei stecken sogar noch zwei Spacer unterm Vorbau; ein paar Pedaltritte bringen das Rad schnell auf Trab. Deutlichster Unterschied zum Renner ist der vergleichsweise breite Lenker – oben 47 cm breit, unten satte 53 (jeweils außen-außen). Der Oberlenker ist leicht zum Fahrer hin abgewinkelt, was sich bei entspannter Fahrweise als sehr angenehm erweist. Die Reifen wiederum fallen kaum auf, rollen sie doch selbst mit Standardschläuchen bei knapp 3 bar ausgesprochen leicht. Der Tubeless-Umbau ist mit den Syncros-Laufrädern ohne weiteres möglich; mit 23 mm Maulweite sind die 40 mm tiefen Carbonfelgen ohnehin perfekt auf breite Reifen und eher geringen Druck ausgelegt.
Beim Wechsel von der Straße auf einen festen, mit kantigen Steinen durchsetzten Waldweg zeigt sich dann gleich zweierlei: Zum einen kann man dem Scott gerade am Heck sehr hohen Komfort attestieren; die weit ausgezogene Carbonstütze flext sicht- und spürbar, während der kurze Sattel mit seiner Aussparung extrem angenehm ist. Zum anderen zeigt sich das feine Noppenprofil des Schwalbe-Reifens quasi jedem Untergrund gewachsen. Auf Naturwegen jeglicher Beschaffenheit bietet er verlässlichen Grip; selbst mit Kraft gefahrene tiefsandige Reitwege lassen den Hinterreifen nicht durchdrehen. Mit niedrigerem Reifendruck (= tubeless) dürfte sich die Offroad-Performance des G-One noch verbessern.
Ausgewogen und neutral erscheint die Lenkgeometrie des Scott. 104 cm Radstand sorgen für Laufruhe; auch wenn der Lenkwinkel mit 71° crosstypisch flach ist, ist das Rad angenehm handlich, im Gelände ebenso wie auf der Straße. Gerade auf Asphalt macht sich die eng abgestufte Übersetzung mit Einersprüngen vom 10er bis zum 17er Ritzel bemerkbar.Wo man auch fährt – mit dem Scott Addict Gravel 10 hat man nie das Gefühl, auf dem falschen Rad zu sitzen.
40er Reifen: möglich, aber nicht freigegeben
Hardcore-Gravelfans werfen dem Scott gelegentlich vor, nicht genug Reifenfreiheit zu bieten; am Testrad ließen sich jedoch sogar 40 mm breite Schwalbe G-One montieren, ohne dass es an den Kettenstreben allzu eng wurde. Wer das (auf eigenes Risiko) ausprobieren will, könnte die Streben innen mit Klebefolie schützen, um Schleifspuren durch Dreck oder Steinchen zu vermeiden. Der Einsatzbereich des Addict Gravel vergrößert sich durch diese Maßnahme jedenfalls noch einmal deutlich.
Knapp 8,4 Kilo bringt das Scott zuzüglich Pedalen auf die Waage, was für ein Gravelbike durchaus wenig ist, aber mit fünfeinhalb tausend Euro teuer bezahlt werden muss. 1.400 Euro davon entfallen auf den Carbon-Radsatz; das Endurance-Rennrad Addict SE Disc mit gleicher Komponentengruppe und Alu-Laufrädern ist bereits für 3.999 Euro zu haben. Aus diesem Vergleich ergibt sich letztlich auch der einzige Kritikpunkt am Gravelbike der Schweizer: Auf den Semi-Aero-Radsatz mit den bauchigen Felgen und der auffälligen kegelförmigen Nabe vorne könnte man beim kombinierten Gravel/Road-Einsatz nämlich durchaus verzichten. Vielleicht sind die Laufräder aber auch eher als Hinweis darauf zu verstehen, dass dieses Rad eigentlich zwei Radsätze erfordert – einen leichten, aerodynamischen für die Straße und ein solides Modell für Offroad-Einsätze. So hätte man mit dem Addict Gravelbike und Rennrad in einem – und das relativiert den hohen Preis dann wieder.
Hier gehts direkt zum Addict Gravel auf der Website von Scott.