Radsport: Martin Temmen und Matthias Fischer wollen im Juli von Moskau nach Wladiwostock fahren – als Zweier-Team beim längsten Radrennen der Welt. Velomotion sprach mit den Beiden.
Velomotion: Martin und Matthias, Ihr habt Euch für 2016 ein extremes Saisonziel gesetzt: das „Red Bull Trans-Siberian Extreme“. Um was genau handelt es sich dabei?
Martin: Es ist ein Etappenrennen entlang der Transsibirischen Eisenbahn von Moskau nach Wladiwostok. 14 Etappen, 24 Tage, 9.200 Kilometer.
Das ist fast eine dreifache Tour de France. Wie seid Ihr auf die Idee gekommen?
Matthias: Da kamen mehrere Anstöße zusammen. Zum einen fahren Martin und ich schon seit Jahren gemeinsam im Rhein-Main-Gebiet Rennrad. Gerade Langdistanzen haben es uns zuletzt angetan, und wir waren auf der Suche nach einem besonderen Abenteuer. Dann haben wir einen Vortrag von zwei Mitgliedern des Guilty76-Teams gehört, die letztes Jahr beim Trans-Siberian Extreme mitgefahren sind. Das war schon sehr inspirierend. Und schließlich hat uns eine Physiotherapeutin, die letztes Jahr das Rennen begleitet hat, soviel davon erzählt, dass wir nun wirklich motiviert sind, es selbst auszuprobieren.
Martin: Eine lustige Anekdote am Rande: Ich stand im August 2015 an der Startlinie des Langstreckenklassikers Paris-Brest-Paris und erfuhr dort, dass in drei Tagen der erwähnte Vortrag in Frankfurt stattfinden sollte. Ich dachte, das schaffe ich nie. Doch dann konnte ich die 1.200 Kilometer von P-B-P in zwei Tagen runterreißen, fuhr nach Frankfurt und hörte den Vortrag – todmüde, aber total angefixt.
Kommen Euch nicht manchmal Zweifel, auf was Ihr Euch da eingelassen habt?
Matthias: Klar, jetzt wo das Rennen langsam näher rückt, denkt man schon ‚Hui, das ist ne große Nummer.‘ Aber je intensiver wir uns damit auseinander setzen und je konkreter die Planungen werden, umso greifbarer wird es auch. Ich hab da Bock drauf. Wobei die Etappen schon der Hammer sind: Zwei sind über 1.000 Kilometer, manche 600 Kilometer lang. Eine kurze Etappe umfasst immer noch 400 Kilometer.
Martin: Uns ist es aber ganz wichtig, zu differenzieren. Wir starten als Zweier-Team, das bedeutet, aus den 9.200 Kilometer werden 4.600 Kilometer pro Person. Geteilt durch die Renntage ergibt das 250 Kilometer pro Tag und Person – eine Herausforderung, aber zunächst mal nichts Unmenschliches. Wir planen, uns stündlich abzuwechseln. Nachts fahren wir drei Stunden am Stück, damit der Andere eine längere Schlafphase bekommt. Unterm Strich ist die Belastung so geringer, als wenn man wie bei Paris-Brest-Paris 1.200 Kilometer am Stück fährt. Das schlimmste, was Du machen kannst, ist stehen zu bleiben. Solange Du in Bewegung bist, ist alles gut. Sobald Du stehst, fällt alles in sich zusammen.
Wie laufen die Etappen ab?
Matthias: Es gibt einen Massenstart aller Teilnehmer. Vermutlich bilden sich dann Grüppchen, und wir werden versuchen, so lange wie möglich vorne mitzufahren. Das Team, das zuerst im Ziel ist, gewinnt die Etappe, die Zeiten werden addiert für die Gesamtwertung. Anders als beim Race across America empfinden wir diesen Modus viel stärker als tatsächliches Radrennen.
Ihr wollt also nicht nur mitfahren, sondern habt richtige Renn-Ambitionen?
Martin: Wir wollen kein Sightseeing in Russland machen, sonst würden wir unsere Reiseräder mit Gepäcktaschen nehmen. Aber wir sehen das Ganze auch realistisch. Mit erfahrenen Langstrecken-Teams werden wir vermutlich nicht mithalten. Trotzdem geht es uns nicht nur darum, zu finishen.
Habt Ihr persönliche Beziehungen zu Russland?
Martin: Ich war zwei Mal in Russland. Einmal bin ich nach St. Petersburg geradelt und ein anderes Mal mit der Transsibirischen Eisenbahn gefahren, an der sich ja auch die Rennstrecke orientiert. Gerade der Baikal-See hat mich unglaublich beeindruckt. Ich habe richtig Lust, dort Rennen zu fahren, in diesen unendlichen Weiten. Außerdem bin ich auch der Meinung, dass unser Bild von Russland zu Unrecht sehr negativ ist. Ich habe dort eine unglaubliche Herzlichkeit und Gastfreundschaft kennengelernt, und auch eine extreme kulturelle Vielfalt.
Matthias: Eine solche persönliche Beziehung zu Russland habe ich nicht. Ich war noch nicht da, bin aber aufgrund der Erzählungen sehr gespannt und freue mich darauf. Wir fahren zwar in unserem Tunnel auf dem Rad durch das Land und werden keine großen kulturellen Eindrücke sammeln können. Aber alleine die Landschaft zu sehen, durch die Städte zu fahren und dieses Rennen dort zu bestreiten, ist ein großes Erlebnis.
Womit beschäftigt Ihr Euch aktuell bei Eurer Vorbereitung?
Martin: Vor allem mit drei Dingen: Wir trainieren, um körperlich fit zu werden. Wir stellen unser Material und unsere Begleitcrew zusammen. Und wir suchen Sponsoren.
Gehen wir das mal Punkt für Punkt durch: Wie trainiert man für so ein Event? Welche Umfänge absolviert Ihr derzeit, und wo liegen die Schwerpunkte?
Matthias: Ein Schwerpunkt ist natürlich, viel Fahrrad zu fahren. Zum einen fahren wir ja sowieso in unserer Freizeit gerne und viel Rennrad. Zum anderen nutzen wir das Rad auch im Alltag verstärkt als Fortbewegungsmittel, fahren damit zur Arbeit und zu unseren anderen Freizeitaktivitäten. Richtung Sommer werden wir auch mal 200 bis 300 Kilometer-Einheiten absolvieren. Aber im Moment unterscheiden sich unsere Umfänge vermutlich gar nicht mal so von denen anderer ambitionierter Rennradfahrer.
Martin: Ein besonderer Schwerpunkt ist zur Zeit die allgemeine Athletik. Drei Wochen Rennradfahren wird hohe Anforderungen an die Rumpfmuskulatur, an den Oberkörper, die Arme und den Nacken stellen. Hier trainieren wir derzeit schon recht umfangreich. Ich gehe drei Mal die Woche ins Fitness-Studio, Matthias sogar vier Mal. Wir wollen nicht in Russland am Straßenrand stehen, und die Beine können noch, nur der restliche Körper streikt.
Arbeitet Ihr mit einem Trainer zusammen?
Martin: Nein. Wir planen das alles selbst und machen eigentlich klassisches Rennradler-Wintertraining: Grundlage fahren, Ausgleichssport, Krafteinheiten.
Wie integriert Ihr das Training in den Alltag?
Matthias: Meine Freundin beschwert sich schon (lacht). Nein, das Verständnis ist auf jeden Fall da, sie fährt selbst auch Rad. Was die Arbeit angeht: Martin und ich fahren jetzt seit fünf-sechs Jahren Rennrad. Da war es auch vorher schon so, dass man neben der Arbeit viel Zeit investiert, etwa 15 Stunden pro Woche. Insofern ändert sich da im Alltag aktuell gar nicht so viel.
Martin: Meine Freundin macht Triathlon. Ihre Umfänge sind fast größer als meine. Matthias und ich nehmen unsere Urlaubstage zusammen, teilweise ergänzt um unbezahlten Urlaub. In diesem Jahr gibt es eben keinen anderen Urlaub.
Wie setzt sich Eure Begleitcrew zusammen? Und was muss sie leisten?
Matthias: Jeder hat ein eigenes Begleitfahrzeug, einen eigenen Mechaniker und einen eigenen Physio. Mit uns Sportlern sind das sechs Leute. Die Autos und Fahrer werden vom Veranstalter Red Bull gestellt. Das werden Moskauer Taxifahrer sein.
Martin: Die Begleitcrew hat einen ganz sensiblen Job. Sie ist mindestens so wichtig, wie wir Sportler. Zu ihren Aufgaben gehört zum Beispiel, dafür zu sorgen, dass wir in den Pausen die Klamotten wechseln, dass wunde Stellen sofort identifiziert und behandelt werden, dass wir richtig essen, trinken, regenerieren. Genauso wichtig wird es sein, uns mental zu unterstützen: aufbauen, wenn es nicht läuft, bremsen, wenn man übermütig wird, unterhalten, wenn es gerade langweilig ist. Wichtig ist auch, dass wir über unser Abenteuer berichten können. Das heißt, Fotos schießen und hochladen, Videos drehen und Blogbeiträge schreiben. Die Crew muss uns auf den Zahn fühlen und unsere Erlebnisse nach draußen tragen, uns aber auch in Ruhe lassen, wenn wir das brauchen.
Matthias: Das wird schon ein Spagat. Aber wir sind guter Dinge. Die Crew steht fast, und wir haben sie sehr sorgsam ausgesucht. Wir wissen, dass wir uns zu 100 Prozent auf sie verlassen können.
Was für Material werdet Ihr verwenden?
Martin: Jeder hat je ein Straßenrennrad und ein Zeitfahrrad dabei. In der Gruppe darf zwar nicht mit Zeitfahrrad gefahren werden. Aber es kann Situationen geben, in denen es wichtig ist, Zeit gut zu machen oder auch mal die Sitzposition zu variieren. Darüber hinaus haben wir mehrere Laufradsätze dabei.
Matthias: Ganz wichtig wird es sein, dass alle Räder und Komponenten miteinander kompatibel sind. Wir fahren beide identische und handelsübliche Teile, um im Notfall tauschen zu können oder rasch Ersatz zu bekommen. Wir werden zwar auch viele Ersatzteile dabei haben, aber wir können nicht jedes Teil am Rad in mehrfacher Ausführung mitführen. Da vertrauen wir dann auch auf den Materialservice des Veranstalters und müssen ansonsten vor Ort improvisieren.
Martin: Klar ist, dass das Material ein entscheidender Faktor ist. Das betrifft die Sitzpolster der Hosen, hochwertige, wetterfeste Bekleidung, robuste, aber auch leichte Rahmen, langlebige Komponenten. Wir führen da schon einen Materialtest unter Extrembedingungen aus. Und wir hoffen natürlich, dass uns Sponsoren dabei unterstützen werden.
Habt Ihr schon Sponsoren-Gespräche geführt?
Matthias: Ja, eine ganze Menge. Und wir haben auch viel positives Feedback bekommen und einige Menschen und Unternehmen überzeugt. Nichts desto trotz suchen wir weiterhin Unterstützer für unser Abenteuer.
Was kostet Euch der Spaß denn?
Matthias: Wir rechnen mit zirka 35.000 Euro Gesamtkosten für das Team. Sie setzen sich zusammen aus den Anmeldegebühren, welche die Unterkünfte, Verpflegung, Rennlogistik, Auto und Fahrer beinhalten. Dazu kommen die Flüge für die gesamte Crew, Material und diverses unterwegs.
Wie kann man über Euer Abenteuer auf dem Laufenden bleiben?
Martin: Wir haben eine Facebook-Fanseite eingerichtet. Dort berichten wir über unsere Vorbereitung, und natürlich wird es hier eine Live-Berichterstattung vom Rennen geben. Red Bull wird mit seiner riesigen Marketing-Abteilung auf allen Kanälen über das Rennen berichten. Und im Nachhinein werden wir Vorträge halten und Berichte veröffentlichen. Wer weiß? Vielleicht können auch wir jemanden motivieren, so wie wir motiviert wurden.
Ihr kommt nicht gerade wie Freaks rüber, eher wie die Jungs von nebenan. Kann jeder schaffen, was Ihr schaffen wollt?
Matthias: Ich glaube ja. Es steckt viel Planung drin, und man muss das Ziel natürlich sehr konsequent und über Monate hinweg verfolgen. Und natürlich bleibt ein Restrisiko. Wir können krank werden, uns verletzen, Defekte erleiden, in ernste körperliche Krisen kommen, den Wechsel aus Hitze, Regen und Kälte nicht verkraften. Trotzdem bin ich überzeugt: Wir werden zeigen, was man neben einem normalen Berufs- und Familienleben leisten kann.
Dann ganz viel Erfolg dabei und vielen Dank für das Gespräch.
Web:
Martins und Matthias Facebook-Fanpage