Bahn-News: Sport oder Show? Oder beides zugleich? Die Sechstagerennen existieren in einem merkwürdigen Spannungsfeld zwischen Profisport und Entertainment. Seit ihrer Blütezeit in den Siebzigern und Achtzigern ist die Anzahl der Sechstagerennen stetig zurückgegangen – doch möglicherweise könnte es wieder einen Aufschwung für diese Mischung aus Sport und Unterhaltung geben. Hier sind unsere Eindrücke vom 105. Berliner Sechstagerennen im Velodrom.
Das Velodrom selbst ist bereits beeindruckend: Ein Rundbau, zum größten Teil in die Erde versenkt, mit zwei umlaufenden Zuschauerrängen und einem freitragenden Stahldach. Die Gänge, die zu den Sitzplätzen und in den Innenraum der Radrennbahn führen, waren vollgestopft mit Ständen, an denen Speisen und Getränke verkauft wurden. Außerdem gab es verschiedene Aussteller von Fahrrädern – sowohl Rennräder wie Mountainbikes und normale Straßenräder –, Radsportkleidung und anderem Zubehör. Ein echter Hingucker waren die 100 Jahre alten Tandems des Varradälti Gerd.
Doch der beste Veranstaltungsort ist nichts ohne sein Publikum. Die Berliner Zuschauer sind generell recht fachkundig. Am Standort des Velodroms befand sich zu Zeiten der DDR die Werner-Seelenbinder-Halle mit ihrer Winterbahn, wo regelmäßig Bahnradwettbewerbe veranstaltet wurden. Diese zogen ein großes Publikum an, das nach der Wende und dem Neubau des Velodroms dem Sechstagerennen erhalten blieb.
Außerdem gibt es sicher den einen oder anderen, der weniger wegen des sportlichen Ereignisses als vielmehr wegen des Getränkeausschanks ins Velodrom findet. Doch auch solche Zuschauer gehören zum Sechstagerennen und tragen mit ihren locker sitzenden Geldbeuteln dazu bei, dass das Event sich für die Veranstalter rechnet. Dazu kommen am Sonntag, dem „Familientag“, Familien mit Kindern und auch viele Radsportvereine aus Berlin und dem näheren oder weiteren Umland mit ihren Jugendabteilungen.
Das Berliner Publikum ist begeisterungsfähig und lautstark, besonders, wenn ein Berliner das Geschehen auf den „Brettern, die die Welt bedeuten“ bestimmt: Bei Rundenrekordversuchen von Robert Förstemann oder Angriffen von Marcel Bartsch im Steherrennen wurde geklatscht, geschrien und gepfiffen, was das Zeug hält.
Als der Berliner Roger Kluge in der Finaljagd angriff, um mit seinem Partner Marcel Kalz den Rundenrückstand auf Kenny de Ketele und Moreno de Pauw wettzumachen, bebten die Betonstufen des Velodroms nicht nur sprichwörtlich von den Anfeuerungsrufen der rund 8000 Zuschauer.
Doch auch die Nichtberliner werden unterstützt, die sportliche Leistung jedes Fahrers und jeder Fahrerin wird gewürdigt. Besonders beliebt bei den Berlinern sind zwei US-Amerikaner: Der Steher Zachary „Zak“ Kovalcik und der Sprinter Nathan „Nate“ Koch. Koch wurde letztes Jahr als kurzfristiger Ersatz für den verletzt ausgefallenen Robert Förstemann verpflichtet und fuhr sich sofort ins Herz der Zuschauer – weniger wegen seiner Ergebnisse als wegen seiner vollbärtigen Erscheinung und seiner unerschütterlich guten Laune. Außerdem versteht es Koch, eine Show abzuziehen, und ist offenkundig glücklich, bei diesem Event dabei zu sein: Er liebt Berlin, und Berlin liebt ihn.
Zak Kovalcik ist ein guter „normaler“ Bahnfahrer und war u.a. US-amerikanischer Meister im Omnium. Seit 2013 ist er ein Teil des Felds beim Weltpokal der Steher – allerdings musste er zunächst lernen, Steherrennen zu fahren und mit dem speziellen Steherrad umzugehen. Der stets gut gelaunte Vegetarier Kovalcik im Stars-and-Stripes-Trikot und mit seinem flatternden Haarschopf ist ebenfalls ein Publikumsliebling, und zum vierten Mal hieß es dieses Jahr zur Freude der Zuschauer „Zak is back!“ In den ersten Jahren hauptsächlich durch wilde, aber schlussendlich erfolglose Attacken aufgefallen, hat Kovalcik inzwischen dazugelernt und war 2016 absolut konkurrenzfähig. Im Steherrennen am Sonntag konnte er den Sieg erringen, und am Dienstag stand Kovalcik als Dritter auf dem Schlusspodium des Weltpokals der Steher.
Nate Koch und weitere fünf Bahnsprinter maßen sich im Rundenrekordfahren, Keirin und in direkten Sprintduellen, letztere oft aufgepeppt durch Stehversuche. Lokalmatador Robert Förstemann jagte seinen eigenen zwei Jahre alten Bahnrekord von 12,441 Sekunden für 250 Meter und wurde von Tag zu Tag schneller. Am letzten Tag verpasste er die Bestmarke jedoch um die Winzigkeit von 0,08 Sekunden – der Bahnrekord von 2014 bleibt bestehen.
An den ersten vier Tagen fand eingebettet ins Hauptprogramm ein Frauenwettbewerb statt; insgesamt 18 weibliche Rennfahrerin aus ganz Europa maßen sich in verschiedenen Disziplinen, aus denen dann nach dem Omniumprinzip eine Gesamtwertung erstellt wurde. Wie schon im Vorjahr gewann auch 2016 die Polin Małgorzata Wojtyra.
Jeden Tag waren vor dem Beginn des eigentlichen Hauptprogramms auch Nachwuchsrennen angesetzt. Der wichtigste war der Jahn Talents Cup für U23-Fahrer, wo sich Manuel Porzner und Arne Egner mit einem Rundengewinn in der letzten Jagd am Sonntag den Sieg sichern konnten. Marcel Franz und Elias Helleskov Busk, die bis zuletzt in Führung lagen, gingen leer aus. Außerdem gab es Wettbewerbe für die Altersklassen U19, U17 und U15, wobei diese letzte Altersklasse gemischt für Jungen und Mädchen war.
Die Hauptveranstaltung aber war eindeutig das Sechstagerennen der Profis mit 16 Teams aus jeweils zwei Rennfahrern. Neben den Jagden, die mit Rundengewinnen und Abwechslungen der „aktiven“ Fahrer den Inbegriff der Sechstagerennen darstellen, gab es auch Mannschaftsausscheidungsfahren, in denen alle zwei Runden die letztplatzierte Mannschaft ausscheidet. Es ist also sozusagen kein Rennen um den Sieg, sondern gegen die Niederlage. Punkte (und in seltenen Fällen auch Rundengewinne) konnten außerdem in Einzelwettbewerben für jeweils nur einen Fahrer jedes Teams erzielt werden: Beim Punktefahren und den Wertungssprints zählt jeweils die Punktzahl, die ein Fahrer sammeln konnte; fürs Scratchrennen und Dernyrennen – hier fährt jeder Fahrer hinter einem Zweitaktmotorrad, dem Derny, als Schrittmacher – erhalten die ersten fünf Plätze eine feste Punktzahl.
Entscheidend waren jedoch wie immer die Jagden über 30 bzw. 45 Minuten; die Finaljagd zum Abschluss ging sogar über 60 Minuten. In diesen längeren Wettbewerben konnten die favorisierten Paare Rundengewinne – teilweise mehrere pro Jagd – auf den Rest des Feldes herausfahren, sich gegenseitig belauern und Attacken abwehren oder kontern, während andere Fahrer genug damit zu tun hatten, nicht abgehängt zu werden.
In diesem Jahr fiel die Entscheidung nach einem packenden Kampf erst am letzten Tag. Mit dem belgischen Duo de Ketele/de Pauw und den Lokalmatadoren Kluge/Kalz hatten sich die Siegkandidaten bereits früh herauskristallisiert. Nach einige Führungswechseln stellten die Belgier am Montag, dem vorletzten Tag bereits die Weichen auf Sieg: Zunächst holten sie sich mit dem Sieg im Derny-Europapokal wichtige Punkte, dann konnten sie in der Jagd über 45 Minuten eine seltene Doublette (einen doppelten Rundengewinn) holen und sich damit von Kluge/Kalz absetzen. Obwohl die beiden Deutschen am finalen Tag nochmals alles versuchten und angefeuert von 11.000 Zuschauern die Finaljagd gewinnen konnten, reichte es am Ende nicht mehr und de Ketele/de Pauw verteidigten ihre Führung.
Das 105. Berliner Sechstagerennen war die erste Austragung unter Federführung der neuen britischen Eigentümer von der Madison Sports Group, die die Veranstaltung im Sommer 2015 übernommen haben. Nachdem sie in diesem Jahr noch hauptsächlich zugesehen haben, wie das Event in Berlin ankommt, kann man sich darauf einstellen, dass MSG nächstes Jahr mit einigen Änderungen aufwarten wird.
Ein Vorgeschmack war bereits zu sehen: Der südafrikanische Technologiekonzern Dimension Data (seit diesem Jahr auch Sponsor eines WorldTour-Teams und langjähriger Partner der Tour de France) lieferte während der Rennen Werte wie die Geschwindigkeit, die Kadenz oder die Herzfrequenz ausgewählter Fahrer in Echtzeit auf die Großbildleinwand im Velodrom. Was dieses Jahr noch eher wie ein netter Gimmick daherkam, soll in Zukunft weiter verbessert und ein fester Bestandteil des Sechstagerennens werden. Auch GoPro-Kameras, die Livebilder aus der Perspektive der Fahrer aufnehmen und zeigen könnten, wären eine Möglichkeit, das Geschehen auf der Radrennbahn zu einem allumfassenden Spektakel zu machen.
Darüber hinaus setzen die Briten auf mehrere Standorte: Im Oktober veranstalteten sie ein Sechstagerennen im Londoner Velodrom, das für die Olympischen Spiele 2012 gebaut wurde. Die London Sixdays waren das erste Sechstagerennen in London nach 35 Jahren. Langfristig scheint die Madison Sports Group ihre eigene Mini-Rennserie von Sechstagerennen anzustreben: Während des Berliner Rennens veröffentlichten sie ihren Plan, im kommenden Winter auch ein Sechstagerennen in New York auszurichten – nach 55 Jahren Pause!
Eine solche Rennserie könnte auch für andere Fahrer als nur die Bahnspezialisten interessant werden; CEO Mark Darbon hat verlauten lassen, dass er gerne Tourgewinner, Olympiasieger und andere Stars des Straßenradsports für seine Rennen verpflichten möchte. Und mit solchen Hochkarätern wäre auch eine Fernsehübertragung möglich. Diese Vision ist auf jeden Fall interessant, nun bleibt abzuwarten, ob sie auch wie geplant umgesetzt werden kann.
Nächstes Jahr findet das 106. Berliner Sechstagerennen vom 19. bis 24. Januar 2017 statt. Es wird interessant, zu sehen, wie sich dieses Traditionsevent weiterentwickelt und ob es mit neuem Leben gefüllt werden kann, ohne seine speziellen Berliner Wurzeln zu vernachlässigen.