Radsport: Am Sonntag ist es soweit: Die 101. Austragung der Flandern-Rundfahrt steht auf dem Programm. Für viele Radsportfans ist dieser Klassiker das wichtigste und schönste Rennen der Saison. Nachdem im letzten Jahr Fabian Cancellara seinen Abschied feierte, wird 2017 eine weitere Legende sein Rad an den Nagel hängen: Tom Boonen möchte bei seinem 15. Start ein viertes Mal bei der Ronde van Vlaanderen triumphieren. Wie stehen seine Chancen? Wir checken die Form aller Favoriten und analysieren die Strecke.
Die Muur van Geraardsbergen ist zurück
18 Hellingen, die Hälfte davon mit Kopfsteinplaster-Abschnitten, dazu fünf flache Pavè-Passagen: Das ist die Flandern-Rundfahrt 2017. Über 260,8 Kilometer führt sie nach Oudenaarde. Gestartet wird nicht wie seit 1998 in Brügge auf dem Grote Markt, sondern in Antwerpen. Diese Veränderung sollte jedoch nicht die einzige sein, denn auch die legendäre Muur van Geraardsbergen kehrt nach sechs Jahren wieder in den Streckenplan zurück. Eine entscheidende Rolle wird die Mauer nicht spielen, da sie schon 95 Kilometer vor dem Ziel überquert wird. Einschalten sollten die Zuschauer trotzdem, denn die Stimmung der Fans vor Ort dürfte beeindruckend sein. Außerdem fällt wohl spätestens 40 Kilometer weiter eine erste Vorentscheidung. Dann nämlich wird zum zweiten Mal der Oude Kwaremont befahren und direkt danach der Paterberg. Es folgen Koppenberg, Steenbeekdries, Taaienberg und Kruisberg. 16,7 Kilometer vor dem Ziel steht zum letzten Mal der Oude Kwaremont an, 3,5 Kilometer später erneut der Paterberg. Hier fällt meist die endgültige Entscheidung. Danach führt ein 13,2 Kilometer langes Flachstück ins Ziel nach Oudenaarde
Eine neue Generation übernimmt endgültig das Ruder
Von 2005 bis 2014 wurden bei der Ronde van Vlaanderen fünf Fahrer als Sieger gefeiert: Tom Boonen und Fabian Cancellara gewannen je dreimal, Stijn Devolder triumphierte zweimal und Alessandro Ballan sowie Nick Nuyens einmal. Am Sonntag werden nur noch die beiden Belgier Devolder und Boonen am Start stehen. Bereits in den beiden vergangenen Jahren hat sich abgezeichnet, dass eine neue Generation das Zepter auch in Flandern übernommen hat. Alexander Kristoff gewann 2015, Peter Sagan 2016. Noch jüngere Fahrer drängen nach. Im vergangenen Jahr wurde Alexey Lutsenko 14. und Dylan Van Baarle sechster. Beide waren 23 Jahre alt. Einem möglichen Nachfolger Boonens, dem Belgier Tiesj Benoot, gelang 2015 im Alter von gerade einmal 21 Jahren sogar der fünfte Platz. Ist der Traum vom goldenen Abschied in Flandern für Tom Boonen also überhaupt realistisch?
Tom Boonen: Außenseiter gegen seine Nachfolger
Wenn über die Favoriten für die Flandern-Rundfahrt gesprochen wird, fällt der Name Tom Boonen (Quick-Step Floors) meist direkt im ersten Satz. Einersteits verständlich, denn der Belgier gewann die Ronde bereits dreimal. Andererseits darf er nicht wirklich zum engeren Favoritenkreis gezählt werden. Zu schlecht waren seine Resultate in den vergangenen zwei bis drei Jahren. Immer wieder hat man bei Quick-Step auf ihn gesetzt, obwohl andere Fahrer im Team eigentlich stärker zu sein schienen. Sicher möchten sie Boonen in diesem Jahr ein Abschiedsgeschenk machen, doch es wäre schon eine dicke Überraschung, wenn der Oldie tatsächlich um den Sieg mitfahren könnte. Im vergangenen Jahr flackerte seine Stärke mit Rang zwei bei Paris-Roubaix noch einmal auf. Doch die Ronde ist schwieriger und kommt Fahrern wie Peter Sagan mehr entgegen. Bei den Eintagesrennen E3 Harelbeke und Gent-Wevelgem fuhr Boonen in die Top 10. Die Form ist also nicht schlecht. Einen Platz unter den ersten zehn trauen wir ihm auch bei der Ronde zu. Für ganz vorn reicht es aber nicht.
Formbarometer: 75 Prozent
Prognose: Platz 3 bis 10
Peter Sagan: Topfavorit – wenn da nicht die Taktik wäre
Als Tom Boonen zum letzten Mal die Flandern-Rundfahrt gewinnen konnte, begann Peter Sagan (Bora-hansgrohe) erst so richtig durchzustarten: Er gewann Gent-Wevelgem, E3 Harelbeke, wurde einmal Europameister, zweimal Weltmeister und schnappte sich 2016 dann auch die Flandern-Rundfahrt. Der Slowake geht bei fast jedem Rennen als Mitfavorit an den Start. Der immer noch erst 27-jährige Profi gilt völlig zurecht als derzeit bester Fahrer der Welt. Seine Stärke ist jedoch auch seine Schwäche, denn sein Status als Favorit macht das Taktieren mit seinen Kontrahenten sehr schwer für ihn. Gesehen haben wir dies zuletzt bei Milan-Sanremo und Gent-Wevelgem. Mit dem sprintstarken Sagan möchte einfach niemand zusammenarbeiten. Dies führt dazu, dass der Slowake entweder das Tempo selbst hochhalten muss und ihm am Ende die Kräfte fehlen, oder sich alle anschauen und dann ein Solist davon fahren kann. Bei der Flandern-Rundfahrt wird Sagan deshalb spätestens beim Oude Kwaremont und dem Paterberg attackieren und sein Glück als Solist suchen. Bei seiner Form sollten seine Aussichten rosig sein.
Formbarometer: 95 Prozent
Prognose: Sieg als Solist
Alexander Kristoff: Tiefstapler oder Realist?
Im Jahr 2015 gewann Alexander Kristoff (Katusha-Alpecin) die Flandern-Rundfahrt vor Niki Terpstra. Im vergangenen Jahr wurde er vierter. Kein Wunder also, dass die Experten den Norweger auch in dieser Saison wieder zum engeren Favoritenkreis zählen. Er selbst sieht sich dort jedoch nicht. Bei Betrachtung der letzten Ergebnisse durchaus verständlich. Schließlich fuhr er in den vergangenen Jahren seine besten Ergebnisse immer bereits sehr früh ein. Zwar gewann er die ein oder andere Etappe, doch gegen die größten Konkurrenten zog er meist den Kürzeren. Hinzu kommt, dass er bei den Eintagesrennen in diesem Jahr stark schwächelt. Bei Omloop Het Nieuwsblad, Kuurne-Brüssel-Kuurne, E3 Harelbeke und Gent-Wevelgem kam er nicht unter die ersten 20. Vielleicht stimmt die Form tatsächlich nicht und Alexander Kristoff ist kein Tiefstapler, sondern ein Realist. In seiner Form scheint es eher unwahrscheinlich zu sein, dass er an den letzten beiden Hellingen die Attacken mitgehen kann.
Formbarometer: 60 Prozent
Prognose: Platz 3 bis 10
Greg Van Avermaet: Jetzt soll es ein Monument sein
Viele Jahre lang galt Greg Van Avermaet (BMC) als guter Rennfahrer. Lediglich die Top-Resultate fehlten. Seit einigen Monaten muss diese Annahme revidiert werden. Der Belgier hat sich innerhalb eines Jahres zu einem absoluten Siegfahrer entwickelt. Er gewann 2016 in Rio Gold bei den Olympischen Spielen, Tirreno-Adriatico und den GP de Montréal. Die Zeiten sind vorbei, als die Experten Greg Van Avermaet zwar auf dem Zettel hatten, ihn aber traditionell nicht als Siegfahrer angesehen haben. Auch in dieser Saison befindet er sich in einer Top-Verfassung. Er gewann die Eintagesrennen Omloop Het Nieuwsblad, E3 Harelbeke und Gent-Wevelgem. Zudem ist er einer der wenigen Fahrer, die einen Sagan im direkten Duell auch im Sprint schlagen könnten. Nach seiner Verwandlung zu seinem Siegfahrer will Van Avermaet nun endlich ein Monument gewinnen.
Formbarometer: 101 Prozent
Prognose: Podium
Philippe Gilbert: Ein kleines Comeback im Herbst der Karriere
Wer hätte gedacht, dass Philippe Gilbert (Quick-Step Floors) doch noch einmal zum Favoritenkreis eines solchen Rennens gezählt wird? Seine beste Zeit liegt weit zurück. 2011 gewann er mit dem Amstel Gold Race, dem Flèche Wallonne und Lüttich-Bastogne-Lüttich gleich drei Monumente in acht Tagen. Hinzu kam Milan-Sanremo und die Clasica San Sebastian. Ein Jahr später wurde er Weltmeister. Danach ging es bergab. 2014 flackerte sein Feuer noch einmal auf, als er erneut das Amstel Gold Race gewinnen konnte und auch die Peking-Rundfahrt siegreich bestritt. Zur konstanten alten Stärke konnte er aber nicht wieder finden. Mit seinem Wechsel zum Team Quick-Step Floors möchte er noch einmal Schwung in die Karriere bringen. Mit Erfolg: Bei der kleinen Vorbereitungs-Rundfahrt Driedaagse De Panne-Koksijde sicherte er sich den Gesamtsieg. Ein Sieg bei der Flandern-Rundfahrt scheint aber dennoch weit hergeholt zu sein. Nicht einmal ins einen besten Tagen konnte er hier triumphieren. Er könnte jedoch eine wichtige Rolle innerhalb der Taktik seines Teams spielen. Durchaus vorstellbar, dass er bereits früher als erwartet in die Offensive gehen wird und so sein Glück als Solist versucht. Möglich aber auch, dass er voll und ganz für seine Teamkameraden eingespannt wird und am Ende gar nicht auf eigene Rechnung fahren darf.
Formbarometer: 90 Prozent
Prognose: Top 10 oder teamtaktisches Element
John Degenkolb: Unter dem Druck der Erwartungen
Die wohl einzige deutsche Hoffnung heißt John Degenkolb (Trek-Segafredo). Durch seinen Wechsel zu Cancellaras Ex-Team wird er häufig als sein Nachfolger bezeichnet. Ob sich dies auch in den Ergebnissen bei den Monumenten wiederspiegelt? Fakt ist, dass er als ehemaliger Sieger von Paris-Roubaix automatisch auch bei der Ronde van Vlaanderen nicht vergessen werden darf. Im vergangenen Jahr verpasste er den Start auf Grund seines Trainingsunfalls, doch 2015 ließ er bereits als siebter aufhorchen. Für ihn wird es wichtig sein, das Hinterrad von Sagan zu halten. Im Sprint kann er es nämlich mit dem Slowaken aufnehmen. Eine Hoffnung könnte auch sein, in der Verfolgergruppe mitzuschwimmen und die starken Männer von Quick-Step Floors die Lücke wieder schließen zu lassen. Mit einem wieder eingeholten Sagan und einen geschwächten Boonen oder Van Avermaet kann es John Degenkolb gewiss aufnehmen. Als siebter bei Milan-Sanremo und fünfter bei Gent-Wevelgem hat er seine gute Form unter Beweis gestellt.
Formbarometer: 85 Prozent
Prognose: Platz 5 bis 10
Sep Vanmarcke: Das Warten auf den großen Wurf
Wie stark ist Sep Vanmarcke? Diese Frage stellen sich derzeit viele Experten. In Topform wäre der Belgier nämlich ein absoluter Mitfavorit auf den Sieg. Doch seine letzten Ergebnisse deuten nicht daraufhin. Be Omloop Het Nieuwsblad wurde er noch dritter, doch bei Dwars door Vlaanderen und E3 Harelbeke schaffte er es nicht in die Top 20. Im letzten Jahr wurde er wie schon 2014 dritter bei der Ronde van Vlaanderen. Der 28-jährige war bei vielen Klassikern vorn mit dabei, doch der ganz große Wurf wollte ihm noch nicht gelingen. Auf Grund seiner eher weniger berauschenden Form ist auch in diesem Jahr nicht damit zu rechnen. Abschreiben dürfen wir den sympathischen Niederländer aber dennoch nicht.
Formbarometer: 50 Prozent
Prognose: Platz 3 bis 10
Außenseiter hoffen auf die perfekte Tagesform
Selten triumphieren bei solch wichtigen Eintagesklassikern die Außenseiter. Viel zu wichtig ist ein Erfolg für die renommierten Mannschaften. Doch vor allem ein Team kann durch taktische Spielchen alles durcheinander bringen. Im Team Quick-Step Floors fahren nämlich nicht nur die beiden Mitfavoriten Tom Boonen und Philippe Gilbert, sondern auch Niki Terpstra und Zdenek Stybar. Auch diese beiden gelten als Spezialisten für solche Rennen und könnten von einem taktisch geprägten Rennen profitieren. Nicht unterschätzen sollten wir zudem einige weitere Piloten, die auf Kopfsteinpflaster-Abschnitten bereits ihr Können unter Beweis gestellt haben. Luke Rowe (Sky) wurde hier im vergangenen Jahr schließlich fünfter. Oliver Naesen (Ag2r) und Tiesj Benoot (Lotto Soudal) haben einige Experten ebenfalls auf dem Zettel. Vielleicht überrascht uns ja sogar ein Deutscher? Tony Martin (Katusha-Alpecin) erhält nämlich laut aktuellsten Interview-Aussagen freie Fahrt für die Ronde. Wenn sich Lukas Pöstlberger (Bora-hansgrohe) so stark präsentiert wie bei E3 Harelbeke, haben auch die Fans aus Österreich jemanden zum Mitfiebern. Auch wenn er vermutlich für Peter Sagan wird arbeiten müssen. So oder so sollten die Radsportfans am Sonntag einschalten. Die Flandern-Rundfahrt gehört Jahr für Jahr zu den spektakulärsten Rennen.