Radsport: Die Fernfahrt Paris-Nizza hat gerade erst begonnen – und schon wurden wir Zuschauer von den Profis verwöhnt. Obwohl die erste Etappe mit nur 135 Kilometern äußerst kurz war, hat sie uns vor allem ganz zum Schluss begeistert. Zu sehen bekamen wir einen packenden Sprint, der darin gipfelte, dass am Ende vier Fahrer praktisch gleichauf über die Linie tigerten. Unsere Radsport Analyse zeigt, wie Arnaud Démare diesen Erfolg einfahren konnte.
Radsport Analyse: Erfolg durch Teamwork, Power & Timing
Betrachten wir beim Sprint der ersten Etappe von Paris-Nizza nur die letzten 50 Meter, dann sehen wir vier Profis, die gleichauf über die Linie sprinten. Doch wie alles im Leben hat auch diese Sequenz eine Vorgeschichte. Die Fahrer haben 135 Kilometer in den Beinen. Jeder Kilometer schreibt seine eigene Geschichte. Im Radsport kann man nicht durch Zufall eine Etappe gewinnen. Es ist harte Arbeit, die wir am Fernsehbildschirm leider oft nicht zu sehen bekommen. Entweder beginnt die TV-Übertragung zu spät, oder wir bekommen die interessantesten Geschehnisse nicht erklärt. Mit dieser Radsport Analyse zur ersten Etappe von Paris-Nizza wollen wir den Erfolg von Arnaud Démare aufschlüsseln. Er ist das Ergebnis von Teamwork, Power und Timing – wie fast jeder Sieg im Radsport.
1) Teamwork
Dass es sich beim Radsport um einen Mannschaftssport handelt, können viele Laien nicht verstehen. Schließlich muss doch jeder Fahrer selbst in die Pedale treten. Richtig, doch bei einem Rennen geschehen viele Dinge, die ohne Teamkameraden gar nicht möglich wären. Bekommen wir zum Beispiel die Highlights der ersten Etappe von Paris-Nizza präsentiert, werden wir vermutlich ein paar entscheidende Aktionen nicht zu sehen bekommen. Dabei ist gerade im Radsport jeder Baustein wichtig, weil jede noch so kleine Aktion automatisch das Rennen beeinflusst. Bei rund 20 Mannschaften mit sieben oder acht Fahrern, kommen am Ende des Tages viele Bausteine zusammen. Diese bilden dann gemeinsam den Charakter des Rennens.
Schauen wir uns also den letzten Kilometer einer Etappe an, sehen wir zwar die letzte Aktion des Rennens, doch wir kennen nicht seine Vorgeschichte. Auf der ersten Etappe von Paris-Nizza hat ein Team von Anfang an das Heft in die Hand genommen: Groupama-FDJ. Die französische Equipe stand zum ersten Mal mit den neuen Trikots am Start. Der neue Sponsor Groupama stieg zum 1. März in das Sponsoring mit ein. Natürlich wollte man sich direkt beim ersten Rennen in der Heimat positiv präsentieren. Wir können also davon ausgehen, dass das Etappenprofil und vor allem die Zielankunft genauestens studiert wurde. Bei der Teambesprechung vor dem Rennen stellt sich also die Frage: Für wen fahren wir? Wer kann für uns die Etappe gewinnen? Etwas überraschend schien die Entscheidung auf Arnaud Démare gefallen zu sein. Der Französische Meister ist eigentlich als klassischer Sprinter bekannt. Sicher kommt er ganz gut über Hügel, doch ein solch schweres Finale hat man ihn selten gewinnen sehen.
Dennoch stand die gesamte Mannschaft hinter dieser Entscheidung. Das Ziel war klar: Groupama-FDJ wollte unbedingt einen finalen Sprint erzwingen. Auf den 135 Kilometern hieß es somit: Ausreißer kontrollieren, Ausreißer einholen und Kapitän Démare beschützen. Dass sich direkt nach dem Start mit Pierre Rolland (EF-Drapac), Pierre-Luc Perichon (Fortuneo-Samsic) und Jürgen Roelandts (BMC Racing) lediglich drei Fahrer abgesetzt haben, war Groupama-FDJ natürlich recht. Eine dreiköpfige Spitzengruppe kann viel leichter wieder eingeholt werden, als wenn sich acht oder neun Mann abgesetzt hätten. So konnte das Trio problemlos wieder eingefangen werden. Rund 120 Kilometer lang musste das Team Groupama-FDJ dafür aber an der Spitze des Feldes ackern. Ein Zustand, der auf den letzten 1,5 Kilometern noch eine Rolle spielen sollte.
Während sich die Sportlichen Leiter des Teams Groupama-FDJ auf Arnaud Démare als Siegfahrer geeinigt haben, setzte man bei der französischen Konkurrenz Cofidis auf eine andere Karte. Sprinter Nacer Bouhanni ließ rund drei Kilometer vor dem Ziel die Beine hängen und fuhr gemütlich bis ins Ziel. Zu schwer erschien ihm die Ankunft zu sein. Stattdessen baute man auf Christophe Laporte, der am Ende Dritter werden sollte. Auch beim Team Lotto Soudal entschied man sich gegen den eigenen Topsprinter. André Greipel stellte sich auf den letzten Kilometern sogar in den Dienst seiner Mannschaft. Bevor der Schlussanstieg begann, setzte er sich an die Spitze des Feldes, um das Tempo hochzuhalten und eine gegnerische Attacke zu verhindern. Kapitän seiner Mannschaft war Tim Wellens, der schließluch auf Rang drei fuhr und am Ende sogar die höchste Geschwindigkeit vorweisen konnte. Im Team Bahrain-Merida setzte man auf die Izagirre-Brüder. Gorka Izagirre erwies sich als der schnellere Mann. Der Spanier fuhr auf Rang zwei und hätte fast gewonnen. Teamkollege Heinrich Haussler hatte – Stichwort Teamwork – einen entscheidenden Anteil daran, denn innerhalb des letzten Kilometers spannte er sich vor das Feld und jagte den geflüchteten Alexis Vuillermoz (AG2R La Mondiale).
Dass Alexis Vuillermoz 1,5 Kilometer vor dem Ziel in die Offensive ging und fast gewonnen hätte, lag nicht nur an seiner eigenen Stärke. Im stark dezimierten Hauptfeld schaute man sich einen Kilometer vor dem Ziel nur an. Niemand übernahm die Verantwortung, da die Helfer von Arnaud Démare keine Kraft mehr hatten oder größtenteils schon gar nicht mehr vorn vertreten waren. Schließlich mussten sie die 120 Kilometer zuvor im strömenden Regen das Ausreißer-Trio wieder einfangen. Arnaud Démare war also auf sich allein gestellt und auf die Hilfe anderer Teams angewiesen. Einen Kilometer vor dem Ziel stellte sich die Frage: Wer möchte und wer kann nun noch etwas investieren, um die Etappe doch noch zu gewinnen? Die Antwort lautete: Heinrich Haussler. Das Team Bahrain-Merida schickte den Australier nach vorn und schon wurde aus einem breiten Peloton plötzlich die berühmte Perlenkette. Das Tempo wurde erhöht und der fast schon sichere Sieger Alexis Vuillermoz konnte doch noch gestellt werden. Am Ende landet der Franzose auf einem undankbaren 29. Platz.
2) Power
So wichtig Teamwork auch ist: Wenn der Kapitän nicht stark genug ist, bringt die beste Mannschaftsleistung nicht viel. Vor der Etappe hätten wohl die meisten Experten Julian Alaphilippe (Quick-Step Floors) größere Siegchancen eingeräumt als Arnaud Démare. Schließlich ist ein Sprint bergauf mit einer Bergwertung 500 Meter vor dem Ziel genau das Richtige für Julian Alaphilippe. Dementsprechend war klar, dass die belgische Mannschaft voll auf ihn setzen wird. Erfüllen konnte der 25-jährige Franzose die Hoffnung aber nicht. Obwohl er sich in einer hervorragenden Position befand, kam er nicht über Rang sechs hinaus. Ob sich Julian Alaphilippe in keiner guten Form befindet und er damit schon als Kandidat für die Gesamtwertung ausscheidet, wissen wir allerdings trotzdem nicht. Schließlich haben auch die Radprofis ab und an einen schlechten Tag. Doch optimistisch stimmt die Analyse nicht. Julian Alaphilippe war 200 Meter vor dem Ziel in der besten Position. Er hatte das Hinterrad von Gorka Izagirre, der gerade den Turbo zündete und die Führung übernahm. Ein Alaphilippe in Bestform wäre nun an Izagirre dran geblieben und hätte sich auf den letzten 20 Metern aus dem Windschatten heraus vorbei geschoben.
Doch daraus wurde nichts. Ganz anders bei Arnaud Démare. Der Sprinter von Groupama-FDJ hat selbst den Sprint eröffnet, war schon 250 Meter vor dem Ziel im Wind. Nachdem Gorka Izagirre ganz rechts an ihm vorbeizog, gab sich Démare nicht auf. Er wusste, dass sein Team den ganzen Tag für ihn gearbeitet hat. Er schnappte sich das Hinterrad von Izagirre, nachdem Julian Alaphilippe mit ihm nicht Schritt halten konnte. Gemeinsam fuhren sie dann an Alexis Vuillermoz vorbei, der ja immer noch als Solist vorn war. Dann waren es nur noch 150 Meter und Démare wagte sich aus der Deckung heraus, ebenso Christophe Laporte und später Tim Wellens. Alaphilippe jedoch blieb im Windschatten und ließ abreißen, weil er einfach nicht schneller konnte.
3) Timing
Wer auf seine Teamkameraden zählen kann und selbst die nötige Power hat, der kann um den Sieg mitfahren. Gewonnen hat man damit aber noch lange nicht, wie das Beispiel Tim Wellens zeigt. Vor dem Schlussanstieg hat sich André Greipel in seinen Dienst gestellt. Danach konnte Wellens dankbar die Unterstützung von Bahrain-Merida annehmen, womit Alexis Vuillermoz gestellt wurde. Nun kam es auf seine Power an, die gute Ausgangsposition zu nutzen und das Ding zu gewinnen. Und Wellens war verdammt schnell. Vergleicht man seine Leistung mit der von Julian Alaphilippe, sieht man einen deutlichen Unterschied. Trotzdem ist Tim Wellens am Ende nur Vierter geworden, weil einfach das Timing nicht gepasst hat.
Wie auf unseren untenstehenden Fotos zu sehen ist, befand sich Tim Wellens rund zehn Meter vor dem Ziel noch immer im Windschatten. Er nahm die größte Geschwindigkeit mit auf die letzten Meter, aber er musste auch einen Umweg ganz nach links außen nehmen. Zehn Meter vor dem Ziel war er klar auf Rang vier, während er auf der Ziellinie fast gleichauf mit allen anderen ist. Fünf Meter nach der Ziellinie ist er ganz klar vorn. Doch das bringt dem Belgier natürlich nicht sonderlich viel. Ganz anders Arnaud Démare, der zuerst von Gorka Izagirre übersprintet wurde, sich dann zurückkämpfte und auf der Ziellinie tatsächlich Erster war. Fünf Meter danach wird er von seinen drei Kontrahenten überholt. Die Reihenfolge der Top 4 hat sich dann tatsächlich genau umgekehrt. Démare gewann, weil bei ihm am heutigen Tag alles zusammenkam und er sich keinen entscheidenden Fehler geleistet hat.