Test / Cargobike: Cargobikes dürften auf dem Fahrradmarkt derzeit wohl die meisten Innovationen hervorbringen. Die Hersteller wagen sich an neue Konzepte und beweisen den Mut, auch „out of the Box“ zu denken. Bestes Beispiel ist das Gleam Escape – ein Cargobike, das so ziemlich alles anders macht, als die Konkurrenz. Wir haben es ausprobiert.
Schon im Jahr 2010 entstand die Idee zu Gleam: Ein Fahrradbotendienst mit Sitz in Wien träumte von einem universellen Gefährt für diesen speziellen Einsatzbereich – auch, weil die am Markt verfügbaren Lösungen den Anforderungen nie so ganz gerecht wurden. Von der Idee an entstand langsam ein Team aus unterschiedlichsten Bereichen, das schon bald danach erste Prototypen entwickelte bis das Rad dann im Vorjahr bereit für die Serienproduktion war. Eine ganz wesentliche Triebfeder für Gleam war zudem der Nachhaltigkeits-Gedanke: Auch deshalb findet die Produktion des Bikes (von einigen Anbauteilen abgesehen) komplett in Europa statt. Der Rahmen wird beispielsweise in Italien gebaut, die Montage selbst erfolgt in den Niederlanden.
Die Technik hinter dem Gleam Escape
Das Gleam Escape ist sicherlich eines der ungewöhnlichsten und spannendsten Bikes, das wir in letzter Zeit für einen Test in der Redaktion hatten. Das liegt natürlich primär an der Entscheidung, die Ladefläche hinter dem Fahrer zu platzieren und dem Bike nicht nur zwei Hinterräder, sondern auch eine Neigetechnik samt Vollfederung zu spendieren. Ein Blick „unter die Haube“ des Bikes zeigt dann auch, welch großer Aufwand seitens Gleam damit verbunden war, diese Vision in die Tat umzusetzen. Das zeigt auch die beachtliche Entwicklungszeit von sieben Jahren – doch es hat sich gelohnt. Ohne jetzt an dieser Stelle allzu tief ins Detail gehen zu wollen, einige Worte zum grundlegenden Prinzip: Beide Hinterräder sind an eigenen Schwingen aufgehängt, die unabhängig voneinander mit einem jeweils eigenen Dämpfer gefedert werden. Das bedeutet, dass sich die Hinterräder losgelöst voneinander nach oben und unten bewegen können. In Verbindung mit der Neigung der Ladefläche sind so Fahrmanöver möglich, die man einem Rad mit diesen Abmessungen niemals zutrauen würde.
Die Kraft des Antriebs und der Beine gelangt über insgesamt drei Carbonriemen zu den Hinterrädern – der Hauptriemen treibt eine Welle im Hinterbau an, welche dann über zwei kürzere Riemen die Kraft wiederum an die beiden Räder und damit auf die Straße bringt. Dank der sehr steifen Riemen ist dies alles ohne großen Kraftverlust möglich. Apropos: Angetrieben wird unser Testbike von einem Motor des italienischen Herstellers Pollini, der beachtliche 90 Nm Drehmoment bietet. Ab Spätsommer soll das Gleam Escape jedoch optional auch mit dem Bosch Cargo Line Motor erhältlich sein. Eine Kettenschaltung findet in diesem System natürlich keinen Platz – stattdessen sorgt eine Enviolo Schaltnabe für die richtige Übersetzung.
Doch Moment: Neigetechnik? Fällt das Rad beim Beladen dann nicht einfach um? Zunächst: Umfallen kann das Gleam Escape nicht – das haben wir in aller Ausführlichkeit ausprobiert. Ab einem bestimmten Winkel wird die Neigung gestoppt und das Rad bleibt fest auf seinen drei Laufrädern stehen. Zum Anderen lässt sich die Neigetechnik bequem vom Lenker aus sperren, was man gerade für das Beladen auf jeden Fall nutzen sollte. Dank einer Feststellebremse lässt sich das Escape außerdem ganz bequem überall abstellen; auch wenn das Lösen selbiger am Bremshebel etwas hakelig ist.
Trotz aller Besonderheiten ist das Gleam Escape „offiziell“ ein ganz gewöhnliches E-Lastenrad. Das bedeutet nicht nur, dass man damit sämtliche Radwege nutzen darf, sondern es ist auch für die vielen Förderprogramme zugelassen.
Modulares Konzept nicht nur für’s Gewerbe
Okay, wir haben jetzt ausführlich über das Rad, die Technik, den Hersteller gesprochen – aber eine wichtige Frage bleibt: Für wen ist ein solches Rad das richtige? Einerseits ist es mit 70 kg (ohne Aufbau) sehr schwer und nun auch nicht unbedingt kompakt. Andererseits bietet es jedoch eine Zuladung von satten 200 kg und ein sehr universelles Handling. Angesichts dieser Eckdaten ist es keine allzu große Überraschung, dass Gleam mit dem Escape primär gewerbliche Kunden ansprechen möchte: Lieferdienste oder Handwerker beispielsweise. Dass das Rad hier bereits erfolgreich Verwendung findet, zeigt übrigens eine eigene Rubrik auf der offiziellen Webseite.
Die Ladefläche misst 60cm x 100cm und lässt sich mit vielfältigen Aufbauten ausstatten. Die abschließbare FLEX.Work Box ist zum Beispiel in zwei Größen (350 und 500 L) erhältlich. Noch mehr Volumen bietet das FLEX.Cover – ein Aufbau mit LKW-Plane, der bis zu 590 L Volumen bietet und eurokistenkonform ist. Individuelle Designs machen das Cargobike für diese Zielgruppe zusätzlich interessant. Wer verschiedene Aufbauten nutzen möchte, kann diese über ein Schienen-System werkzeuglos und sicher auswechseln. Dieses System ist auch ein wesentlicher Grund dafür, dass Gleam beim Escape von einem „Multi Use Bike“ spricht – eben ein Lastenrad für vielfältige Anwendungsbereiche.
Ganz neu seit diesem Sommer ist FLEX.Life – eine Holzkonstruktion für die Familie. Hier findet nicht nur eine Doppel-Sitzbank Platz, sondern es gibt zusätzlich auch reichlich Platz für sonstiges Gepäck. Ein Regenverdeck wird in naher Zukunft ebenfalls erhältlich sein. Wir hatten eine nicht ganz finale Version des FLEX.Life Aufbaus in der Redaktion; das Einsetzen fällt dank der passgenauen Schienen sehr leicht und man hat wirklich sehr viel Platz, auch über die beiden Passagiere hinaus. Während unser Prototyp noch eine starre Sitzbank hatte, wird diese in der finalen Version anpass- und verschiebbar sein. Zudem lässt sich die Rückenlehne über einen Schnellverschluss mit einem Handgriff entnehmen, sollte man andere Dinge transportieren wollen.
Fahren mit dem Gleam Escape: Überraschend gewöhnlich!
Angesichts der zahlreichen Sonderlösungen, des neuartigen Konzepts und so viel Technik erwartet man zunächst nicht unbedingt, dass sich das Escape fährt wie ein „gewöhnliches“ Fahrrad bzw. E-Bike. Nach einigen Übungs-Metern tritt jedoch genau das ein! Wer das Lastenrad so bewegt wie ein gewohntes E-Bike, dürfte überrascht sein, wie unauffällig sich das immerhin 70 kg schwere und ganz schön lange Gefährt von A nach B bewegen lässt. Das ist nicht zuletzt der Neigetechnik im Heck zu verdanken, dank derer sich selbst enge Kurven meist vollkommen problemlos meistern lassen. Schön: Selbst bei langsamer Gangart kippt das Gleam Escape nicht nach rechts oder links – damit haben andere mehrspurige Lastenräder mit Neigetechnik oft zu kämpfen.
Ganz und gar nicht unauffällig zeigt sich das Cargobike der Österreicher in puncto Komfort: Die Vollfederung kann auf schlechtem Untergrund ihre Karten voll ausspielen und bügelt selbst wirklich tiefe Schlaglöcher oder grobe Pflastersteine mühelos aus. Auch Bordsteine entlocken dem Rad bis zu einer gewissen Höhe nicht mehr als ein müdes Lächeln. Durch die Einzelradaufhängung im Heck muss man sich zudem auch überhaupt keine Gedanken machen, wenn beispielsweise kleinere Hindernisse im Weg liegen. Diese können bei gewöhnlichen Dreirädern ansonsten nämlich gerne dazu führen, dass das Rad kippelig wird; nicht so beim Escape.
Natürlich hat das Rad seine Besonderheiten. Gerade das Anfahren will zunächst ein wenig geübt werden, bis man sicher und zügig vom Fleck kommt. Kurzes Abstoßen per Fuß, eine halbe Kurbelumdrehung und man bewegt sich selbst bei hoher Beladung auf sicherem Terrain. Hier hilft natürlich auch die Power des E-Motors; in unserem Fall war das Aggregat von Pollini verbaut, an dem wir rein gar nichts auszusetzen hatten. Vor allem die starke Unterstützung auch bei niedriger Trittfrequenz hilft im Alltag. Mit seinen 90 Nm maximalem Drehmoment hat der Motor zudem auch genügend Power, um auch bei hoher Beladung einen Anstieg zu bewältigen. Derartige Szenarien nagen jedoch schnell am Akku; auch wenn die konkrete Reichweite immer vom jeweiligen Einsatzbereich abhängt, würden wir in jedem Fall zur Doppel-Akku-Option raten. Damit dürften Reichweiten um 50 km problemlos machbar sein.
Der Basispreis von ca. 8.000 Euro erscheint uns beim Gleam Escape angesichts des hohen Konstruktionsaufwands und der überzeugenden, hochwertigen Ausstattung durchaus angemessen. Konfigurieren lässt sich das Bike auf der offiziellen Webseite – hier bieten die Jungs und Mädels von Gleam auch einen Online-Berater, um möglichst schnell zum passenden Bike für den individuellen Einsatzbereich zu kommen.