Canyon Precede:ON 7 im Test: Canyon nennt es „Citybike“, doch das klingt fast zu brav für das Precede:ON 7. Denn das ungewöhnliche E-Bike für den Alltag gefällt im Test mit einem sportlichen Charakter, der weniger mit der Motorisierung zu tun hat, sondern eher mit Fahrverhalten, Ausstattung und Sitzposition.
Als der E-Bike-Boom Anfang der 2010er Jahre Fahrt aufnahm, waren die Anbieter braver City- und Tourenbikes fein raus. Bis dahin waren ihre Fahrräder nicht gerade die spannende Speerspitze der Technik gewesen, doch für das innovative Elektrorad hatten sie mit ihrer Produktpalette die ideale Basis, außerdem genau den richtigen Händler- und Kundenkreis. Sportlich orientierte Radhersteller brauchten dagegen teils recht lange, um sich Wege auszudenken, um gesichtswahrend Elektrobikes anbieten zu können. Einige wenige stießen das E-Mountainbike an und ernteten anfangs erstaunte Blicke und sogar Hohn – heute wissen wir, dass das nicht angebracht war. Andere erweiterten ihre Produktpalette um Trekking- und Tourenbikes mit Motor und statteten sie mit möglichst starken Aggregaten aus – auch ein Weg, um Sportlichkeit zu demonstrieren. Und wieder andere überlegten erst einmal, wie sie ihre sportliche DNA aufs E-Bike übertragen könnten – und was „sportlich“ beim Fahrrad überhaupt bedeutet.
Sportlichkeit ohne maximale Power
Bei einem mit Muskelkraft betriebenen Fahrzeug ist das nämlich gar nicht so einfach. Klar, beim Auto reichen ein großer Hubraum und viele Pferdestärken, doch wer beispielsweise einen Bosch Performance CX aus dem E-MTB-Bereich an ein Citybike montiert, erhält noch längst kein Sportrad. Sinnvoller scheint es daher, sich jene Aspekte anzuschauen, die ein Fahrrad wirklich sportlich machen. Dann landet man bei Faktoren wie der Geometrie und damit Fahreigenschaften und Sitzposition, kann sich über das Handling Gedanken machen und nicht zuletzt über die optische Anmutung.
Bei der Konzeption des Precede:ON 7 mögen die Entwickler von Canyon so vorgegangen sein. Die Koblenzer hatten lange Zeit nichts als Rennräder und Mountainbikes im Sinn; erst Anfang 2018 wurde ein E-MTB vorgestellt, und seitdem wurde das E-Sortiment auf alles vom Rennrad bis zum Citybike ausgeweitet. Zur letzteren Kategorie gehört auch das Precede:ON 7, und hier kann man schon mal stutzen: Dieser Bolide soll ein Cityrad sein? Naja, anderswo nennt man so etwas „Urban Bike“, doch gemeint ist dasselbe: ein (Elektro-) Fahrrad für Alltag und Freizeit, funktionell, technisch aufs Sinnvolle reduziert und dabei sorgfältig designt, wobei letztere zwei Aspekte oft Hand in Hand gehen.
Solider Alu-Rahmen, wuchtige Komponenten
Was also zeichnet das Canyon Precede:ON 7 aus? In Sachen Optik fallen die kantigen Aluminiumrohre mit ungeschönten Schweißnähten ins Auge. Dazu gibt es Urban-typisch eine starre Gabel aus Carbon, die ebenso wuchtig wirkt wie die 57 mm breiten Schwalbe-Reifen mit dem typischen, hier etwas stärker ausgeprägten Noppenprofil des G-One Allround. „Schalten“ im klassischen Sinne kann man beim Canyon nicht; am Precede:ON 7 wird das stufenlose Nuvinci- bzw. Enviolo-Getriebe verbaut, bei dem man die Übersetzung und damit die Tretfrequenz übergangslos verändern kann. Und wie üblich kombiniert Canyon das Getriebe mit einem Zahnriemenantrieb, der im Unterschied zur Fahrradkette quasi wartungsfrei ist.
Zu den breiten Reifen passen die aus Alu-Hohlprofilen gefertigten, extrem soliden Schutzbleche – vorne mit einem Bügel an der Gabel gefestigt, hinten am Systemgepäckträger „hängend“. Das klitzekleine LED-Rücklicht sitzt ziemlich tief am Schutzblech, der sehr helle Supernova-Scheinwerfer ist derweil weit oben am Vorbau befestigt. Wobei letzteres nicht ganz das richtige Wort ist: Canyon verbaut eine Lenker-Vorbau-Einheit, die sämtliche Kabel und Leitungen ins Rahmeninnere führt, was für ein sehr aufgeräumtes Cockpit sorgt. Sogar die Hydraulikleitung der vorderen Bremse ist innenverlegt. Beim Cockpit kommt auch zum ersten Mal das Thema „Sportlichkeit“ ins Spiel: Der Lenker befindet sich in etwa auf dem Niveau des Sattels und ist praktisch nicht höhenverstellbar, was in einer leicht geneigten, eben etwas sportlichen Sitzhaltung resultiert. Die Lenkerenden sind leicht zum Fahrer hin orientiert, das Cockpit ähnelt aber mehr einer MTB-Lenkstange als einem geschwungenen Tourenlenker.
Schubstark und harmonisch
Angeschoben wird das Citybike vom Bosch Performance – genau, ohne „CX“. Canyon verzichtet auf maximales Drehmoment, und dies ist eines der interessanten Aspekte des Konzepts: Beim Ampelstart erreicht man die maximale unterstützte Geschwindigkeit sowieso in Sekundenschnelle – warum hier noch einen draufsetzen? Zumal das Rad durch den nicht ganz so schubstarken Motor an Beherrschbarkeit gewinnt und sich harmonischer fahren lässt als so mancher übermotorisierte E-Tourer, der bei zartem Druck aufs Pedal ruckartig nach vorne schießt. Bei den kleineren Rahmenhöhen verbaut Canyon einen 500-Wattstunden-Akku, bei den größeren einen 625-Wh-Speicher – dieser ist länger und braucht mehr Platz im Unterrohr. Aus diesem Grund kosten die kleineren Modelle etwas weniger. Zum Antrieb gehört außerdem das kompakte Purion-Display am linken Lenkergriff, das aber groß genug ist, um auf einen Blick abgelesen werden zu können.
Stufenloser Schaltkomfort
Die Übersetzung wird per Drehgriff angepasst, wobei dieser stufenlose Schaltvorgang auch unter Last – etwa am Berg – ausgeführt werden kann. Auch das kommt einer sportlichen Fahrweise zugute; bei konventionellen Nabenschaltungen muss man nämlich stets das Pedal etwas entlasten, will man den Gang wechseln. Beim E-Bike führt das dazu, dass die Elektronik kurzzeitig die Motorunterstützung zurückfährt, sodass man ein wenig abbremst – gerade bergauf ist das etwas unpraktisch. Wer immer Zug auf der Kette haben will und gleichzeitig den minimalen Wartungsaufwand der Getriebe/Zahnriemen-Kombi nicht missen mag, kommt um die Enviolo nicht herum.
Wie also fährt sich das Canyon Precede:ON? Erst einmal gefällt der starke Schub des Bosch-Motor. Binnen Sekunden hat man das Reisetempo von gut 26 km/h erreicht, wobei der Tacho ziemlich exakt dem zu Vergleichszwecken mitgeführten GPS-Gerät entspricht. Aus dem Bereich der Motorunterstützung herauszufahren, ist kein größeres Problem – der Antrieb regelt sanft und ruckfrei ab und setzt ebenso wieder ein, wenn man langsamer wird.
Dass das Precede:ON 7 mehr als ausreichend motorisiert ist, beweist es an Anstiegen aller Art. Den langgezogenen Sechsprozenter marschiert es mit 25 km/h hoch; am anderthalb Kilometer langen Hausberg mit gut 100 Höhenmetern pulverisiert es die Bestzeiten aller Radsportler, die nicht dauerhaft 400 Watt oder mehr aufs Pedal bringen – und das, ohne dass sich der Fahrer nennenswert anstrengen muss. Auch für einen supersteilen Stich mit teilweise über 25 % Steigung bringt das Bosch-Performance-Aggregat genügend Drehmoment mit – hier muss man allerdings mit hoher Tretfrequenz kurbeln, um für Vortrieb zu sorgen. Und zum überzeugenden Antrieb gesellen sich vorbildliche Fahreigenschaften: Mit langem Radstand und flachem Lenkwinkel ist das Rad richtungsstabil und auch bei hohem Tempo fahrsicher; das Lenkverhalten ist dabei als handlich ohne Hang zur Nervosität zu bezeichnen. Das bedeutet auch, dass das Precede bei Schritttempo nicht kippelig wird, wie es bei manchem Bike mit steilem Lenk- und Sitzwinkel der Fall ist – eine gute Sache bei Engstellen und im Kreuzungsbereich.
Komfort und vorbildliche Bremsen
Fehlt dem Rad die Federgabel? Definitiv nicht. Die großvolumigen Reifen sorgen für ein hohes Maß an Vibrationsdämpfung und schlucken auch den einen oder anderen Fahrbahnstoß, wobei man viel Spielraum beim Luftdruck hat – so lange sich das Canyon bei Kurvenschräglage nicht schwammig anfühlt, ist alles in Ordnung. Und noch einen Vorteil haben die Schwalbe-Pneus: Das kräftige Noppenprofil verzahnt sich gerade bei etwas reduziertem Druck vorzüglich mit dem Untergrund, sei es Asphalt oder Naturwege. Das bedeutet auch, dass man die Magura-Scheibenbremsen mit großem Selbstvertrauen betätigen kann. Mit ihren Zweifinger-Hebeln sind sie hervorragend dosierbar, zumal der Druckpunkt etwas weicher ist; das Vorderrad lässt sich eigentlich nur mit bewusster Anstrengung zum Blockieren bringen – etwa, indem man auf lockerem Untergrund scharf einlenkt und dann mit voller Kraft am Hebel zieht. Gerade beim Citybike ist das ein klares Sicherheits-Plus.
Mit all diesen Eigenschaften lässt sich das Canyon nicht nur sportlich-flott, sondern auch sehr sicher bewegen. Seine Technik verlangt wenig Aufmerksamkeit, so dass man diese dem Verkehrsgeschehen widmen kann – und im Stadtverkehrt schnell und sicher mitzuschwimmen ist schließlich der Sinn eines Citybikes. Damit dürfte das Precede:ON 7 den Geschmack vieler Alltagsfahrer treffen, die höchstens noch eine Bitte an Canyon äußern könnten: Was dem Rad (wie vielen anderen) fehlt, ist eine gefederte Sattelstütze – ein Plus an Komfort, der den sportlichen Charakter nicht verwässern wird.
WEB: canyon.com