Fahrradland Deutschland? Fahrräder und E-Bikes sind in Deutschland seit Jahren auf der Überholspur, mit Schmackes. Es könnten aber noch viel mehr sein: Radfahren könnte eine Mobilitätswende einleiten, wenn es sicherer und stressfreier wäre, und wenn sich unsere Regierung dazu bekennen würde. Wir zeigen dir, was jetzt passieren muss, damit die Mobilitätswende endlich gelingen kann!
Eigentlich sah im August 2022 alles so gut aus: Bundesverkehrsminister Volker Wissing erklärte, er wolle „Deutschland zum Fahrradland“ machen. Endlich! Wir konnten es kaum glauben, aber wir freuten uns. Seltsamerweise war vieles, was vom Bundesministerium danach kam, eher gegen das Vorhaben „Fahrradland Deutschland“ gerichtet. Der Ausbau des Autobahn-Netzes etwa hilft wenig auf dem Weg zum Fahrradland, ebenso wie die konsequente Beschränkung der Städte und Gemeinden darin, die Geschwindigkeit auf ihren Straßen selbst zu regeln und Freiheit bei der Einrichtung neuer Radwege zu bekommen. Schau’n mer mal, was sich ändern muss, damit das Fahrradland Realität wird – natürlich bei weitem ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Hier unsere zehn Punkte, damit Fahrräder und E-Bikes endlich zur Nummer eins um Straßenverkehr werden:
1. Weg mit den Vorrechten für Autos!
Eine grundlegende Veränderung: Der Bund muss das Straßenverkehrsrecht endlich wie geplant novellieren; der Vorrang des Autoverkehrs bei Entscheidungen muss wegfallen. Verkehrsteilnehmer vom Fußgänger bis zum LKW-Fahrer müssen gleichberechtigt behandelt werden. Gut 550 Städte und Gemeinden haben sich bislang zusammengetan, um gegen die Regelung des Auto-Vorrangs anzugehen. Sie macht es nämlich unmöglich, eine Grundlage für lebenswerte Städte zu schaffen. Zum Beispiel ist es so nur in sehr seltenen Fällen möglich, Tempo-30-Zonen außerhalb reiner Wohngebiete einzurichten. Geringere innerstädtische Geschwindigkeit ist eine der Voraussetzungen für gesündere Städte, die echte Aufenthaltsqualitäten für ihre Bewohner bieten. Gleich noch ein aktuelles Zitat: Wissing hält nichts von dieser Verkehrsberuhigung. „Da sind nicht nur Interessen der Bewohner betroffen, sondern auch diejenigen, die durchfahren müssen“, meinte er laut Zeit Online vor kurzem erst. Ziel Fahrradland?
2. Aller Anfang eine Last?
In Sachen Lastenrad haben viele Kommunen schon verstanden: Seine Nutzung ist eine andere wesentliche Voraussetzung für weniger lauten, wenig gesundheitsschädlichen Verkehr und weniger zugeparkte Straßen, Rad- und Gehwege. Es gibt vielerorts Lastenrad-Förderprogramme, mit denen man Unterstützung für den Lastenradkauf erhält. Gut! Ganz wichtig aber wäre auch mehr Leihe: „Lastenrad-Sharing ist wie eine Einstiegsdroge“, sagt auch Alexander Lutz vom Beratungsunternehmen Cargobike Jetzt, der viel Erfahrung mit der Mobilitätsberatung von Kommunen hat. Sharing hat zwei Vorteile: Es ermöglicht auch Menschen mit geringerem Einkommen, die Chancen, die das Lastenrad bietet, kennenzulernen und vielleicht dauerhaft umzusteigen. Und durch Sharing wird das Lastenrad in der öffentlichen Wahrnehmung sehr viel schneller präsent und ins Stadtbild integriert.
3. Mehr SUV-Plätze – für Lastenräder!
Förderung alleine hilft nix: Wenn sie da sind, müssen (Lasten-)Räder auch parken können. Schon jetzt gibt es in Großstädten oft Streit unter Anwohnern wegen der – vermeintlich riesigen – Parkfläche, die Lastenräder für sich in Anspruch nähmen. Apropos: Wie viele SUVs passen nochmal in eine Lastenrad-Parkfläche…? Jedenfalls ist das Parken fast so wichtig wie das Fahren. Umwidmung ist das Zauberwort. In Großstädten werden vereinzelt Autoparkplätze durch Fahrradparkplätze ersetzt. Hier braucht es mehr Mut der Entscheider. Übrigens: Schon jetzt ist es erlaubt, Fahrräder auf Autoparkplätzen abzustellen …
4. Mobilitätsspezialisten statt Autofachmenschen fragen
Überhaupt gilt: Leute beauftragen, die eine Ahnung von der Marterie haben, nicht solche, die seit ewiger Zeit Auto-Welt-konform geplant haben! Ein Beispiel im Fahrradland Deutschland: Das neue Fahrrad-Parkhaus in Hamburg Kellinghusenstraße mit 600 Stellplätzen. Wer das Gebäude ohne Hinweisschild gefunden hat, kann es von einer Richtung her nur schiebend erreichen. Doch auch wer davor steht, muss den Eingang suchen. Auf die obere, eigentliche Parkfläche kommt laut Medien nur, wer sein Rad oder E-Bike eine Treppe hochträgt(!) oder über eine zwanzig Zentimeter schmale, eine Treppe begleitende Rampe hochschiebt …. zum Vergleich: Das groß niederländische Parkaus in Utrecht (12.500 Stellplätze) führt Radfahrer auf breiten, sicheren Fahrradwegen auf die einzelnen Parkdecks. Einfach mal anschauen, liebe Entscheider in den Gemeinden. Und dann mit Mobilitätsexperten zusammenarbeiten, die sich auskennen.
5. Mehr Mut!
Je ruhiger der Verkehr und je fahrradgeeigneter die Verkehrs-Infrastruktur, desto sicherer die Radfahrenden und desto besser die Chancen für eine schnelle Verkehrswende. Die Veränderungen an der Verkehrs-Infrastruktur, die viele Entscheider jetzt schweren Herzens und mit Angst vor der nächsten Kommunalwahl veranlassen, sind oft bestenfalls halbherzig. Sie versuchen, irgendwie alles beim Alten zu lassen, um niemanden auf vier Rädern zu verärgern und doch einer neuen Mobilität gerecht zu werden. Klappt natürlich nicht: Der Platz in den Städten ist extrem begrenzt. Wenn Radfahrende mehr davon bekommen sollen, muss er woanders genommen werden. Punkt.
Dabei wird wahrscheinlich auch unter allen Fahrrad-Lobbyisten nie geklärt werden, ob Fahrradwege immer getrennt vom Autoverkehr verlaufen müssen – dazu haben die meisten Städte zu schmale Straßen –, oder ob es eine Möglichkeit auch ohne strikte Trennung gibt, die allen Verkehrsteilnehmern gerecht wird. Sei’s drum. Mit weniger Auto-Geschwindigkeit auf den Straßen ging es jedenfalls sicher besser – aber da wären wir wieder beim 30-km/h-Problem der Städte.
6. NRVP – Nationaler Radverkehrsplan. Endlich machen!
Der Allgemeine Fahrrad-Club Deutschland (ADFC), fordert, endlich den Nationalen Radverkehrsplan 3.0 umzusetzen und deutlich mehr in die Radverkehrsstruktur zu investieren.: das Radwegenetz erweitern und verfeinern, den Bau der Radschnellwege endlich beschleunigen. Der ADFC forderte kurz zuvor von Minister Wissing auch ein klares Bekenntnis zum Rad und schnelleres Handeln. Hilft es? Das Bekenntnis hatte dieser, wie oben gesehen, bereits 2022 abgegeben – um dann ganz andere Taten folgen zu lassen. Selbst der TÜV fordert, den Ausbau der Radinfrastruktur endlich zu beschleunigen. Bekenntnisse hin oder her – die Möglichkeiten dazu schaffen, liebe Politik, und dann machen ist jetzt die Devise. Radwegnetze, die nicht alle hundert Meter gefährliche Löcher haben, Fahrradstraßen, die dann nicht wieder für alle Fahrzeuge freigegeben und zugeparkt werden, Kreuzungen, die den Radfahrenden und Fußgängern sicheres Passieren erlauben, ohne eine halbe Stunde an der Bettelampel anstehen zu müssen.
7. Mobilität für alle!
Viele Menschen, die tagtäglich per Auto unterwegs sind, haben noch nicht begriffen, dass Velofahren kein Angriff auf, sondern eine mögliche Alternative für sie ist. Da ist viel mehr Öffentlichkeitsarbeit gefragt. Aber wie erkläre ich den Menschen, die mit Fahrrad nichts am Helm haben und immer schon die alltägliche Imagekampagne „Deutschlands wichtigstes und schönstes Kind ist das Auto“ verinnerlicht haben, dass es keinen Grund gibt, Automobilität über alles zu stellen?
Wie wäre es etwa mit einer Mobilitäts-Fahrschule, die Teil des Pflichtteil des Autoführerscheins sein könnte? Alternativen aufweisen und zeigen, was andere Mobilität besser kann als Automobilität. Eine Kurzstrecken-Mobilität, die mehr Spaß machen kann, mehr Gesundheit und Lebensqualität bringt und Leben schützt? Vielleicht würde das auch helfen, die Kluft zwischen Autofahrer und Radfahrer zu schließen.
Aktueller Bußgeldkatalog: Strafen für Verstöße im Straßenverkehr mit Fokus auf den Fahrradverkehr
Ratgeber / Recht: Der Bußgeldkatalog im Straßenverkehr wurde mit Fokus auf den Fahrradverkehr zuletzt im November 2021 umfassend aktualisiert. Wir geben einen Überblick über die häufigsten Verstöße und welche Strafen jeweils fällig werden. Wer als Radfahrer auf der falschen Seite fährt oder auf dem Gehweg erwischt wird, muss mit einem Bußgeld von bis zu 55 […]
8. Echte Aufklärung und Opfer nicht zu Tätern machen
Bei einem Großteil aller Unfälle zwischen KFZ und Bike ist der Autofahrende schuld. Doch die Verantwortlichen in Sachen Kommunikation arbeiten an anderen Baustellen: Immer wieder gibt es „Tote-Winkel-Kampagnen“, in denen Radfahrende darüber aufgeklärt werden sollen, dass sie keinem LKW zu nahe kommen dürften. Tenor: Der Fahrer könne ja nichts dafür, wenn er sie „übersehe“ und so überfahre. In den Polizeiberichten und Medien gibt es oft eine Täter-Opfer-Umkehr: „Der Radfahrer verletzte sich beim Aufprall“ – statt „der Autofahrer fuhr den Radfahrer um und verletzte ihn dabei…“
9. Gesetze umsetzen – auch wenn’s mal zum Vorteil der Radfahrenden ist.
Bei aller Kommunikation: Es braucht auch einen Regelkatalog, der konsequent umgesetzt und vor allem auch geahndet wird. Beispiel Überholabstand beim Passieren eines Radfahrers: Seit 2020 ist nun endlich festgelegt, dass er innerorts mindestens 1,5 und außerorts 2,0 Meter betragen muss. Wer ihn nicht einhält, hat mit ab 30 Euro Strafe zu rechnen.
Wer aber hat schon einmal gesehen oder gehört, dass jemand, der mit dem Seitenspiegel fast den Lenker des überholten Radlers berührt hat, bezahlen musste? Wo sind die Schilder, die das Überholen von Radfahrenden verbieten, weil die Straße zu schmal ist, um den Abstand einzuhalten?
10. Gegen selbsterfüllende Prophezeiungen!
Verkehrsminister Wissing hat übrigens seine eigene Vision vom Fahrradland Deutschland im März 2023 dann doch drastisch relativiert: Man erwarte, dass der Anteil des Radverkehrs von heute 10 auf gerade einmal 12 Prozent steige – und zwar bis zum Jahr 2050, so der Verkehrsminister. Wenn dem so ist, dann hat er und seine Kollegen die letzten Jahre wohl ziemlich viel falsch gemacht. Also schnell einen anderen Weg einschlagen, Herr Wissing – ein paar Tipps haben Sie jetzt ja erhalten.