Test: Das kommende Jahr markiert für das Merida Scultura den zehnjährigen Geburtstag. Seit seiner Markteinführung 2006 hat das Top-Straßenmodell des taiwanesischen Herstellers viele Entwicklungsstufen durchlaufen – das 2016er Modell ist nach Angaben von Merida nicht nur das leichteste Serienstraßenrad der Welt, sondern soll auch in Sachen Komfort, Steifigkeit und Aerodynamik die Vorgänger übertrumpfen. Ich hatte die tolle Gelegenheit, den edlen Carbonracer in der Team-Edition auf unserer Kreuzfahrt mit der Mein Schiff 4 eine Woche lang auf unterschiedlichstem Terrain auf den Kanaren und Madeira zu testen.
Bei der Entwicklung des neuen Scultura flossen selbstverständlich die Erfahrungen und Wünsche der Profis vom Team Lampre-Merida mit ein – bessere Experten und wertvolleres Feedback kann man sich als Entwickler wohl kaum wünschen. Die Anregungen der Profis schlugen sich in unterschiedlichsten Bereichen nieder, von der Geometrie über Aerodynamik bis hin zum Komfort. Die Köpfe hinter dem Merida Scultura haben an unzähligen Stellschrauben gedreht, damit am Ende dabei ein würdiges ‚Jubiläums-Rad‘ herauskommt.
Rahmen
Die Basis für mein Merida Scultura Team bildet der Scultura CF-4 Rahmen, der mit einem Gewicht von ca. 800g (Größe S) zu den leichtesten Vertretern überhaupt gehört. Beim Leichtbaumodell Scultura 9000 konnte man mit dem CF-5 Rahmen sogar noch einen draufsetzen: Mit einem Rahmengewicht von nur 730g und edlen Anbauteilen landet das Scultura 9000 bei sagenhaften 6kg Gesamtgewicht und dürfte damit wohl tatsächlich das leichteste Serienrad überhaupt sein. Man mag sich nun fragen, weshalb dieser hochmoderne, superleichte Rahmen nicht auch am Teammodell zum Einsatz kommt. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Zum einen handelt es sich beim 730g leichten CF5-Rahmen um ausgesprochenen Leichtbau. Das Rad ist natürlich zweifellos fahrbar und wäre sicherlich auch Renn- und Rundfahrttauglich, doch bietet der Rahmen im Falle von Stürzen einfach wenige Reserven und gerade im Rennbetrieb wäre dies wohl ein nicht zu unterschätzender Minuspunkt. Darüber hinaus leidet durch die teils sehr dünne Wandstärke beim CF5 auch die Steifigkeit ein wenig. Zu guter Letzt müssen die Profis ihre Räder ohnehin auf das UCI-Mindesgewicht von 6,8kg bringen – da wäre es nur wenig sinnvoll, die Nachteile des CF5-Rahmens in Kauf zu nehmen, ohne aber den großen Vorzug in Form des sensationell niedrigen Gewichts nutzen zu können.
Das Scultura 9000 ist somit wirklich ein Fall für die Gewichtsfetischisten, während das Scultura Team, bzw. auch die Varianten Scultura 7000 und 6000 mit dem minimal schwereren CF4-Rahmen die erste Wahl für all jene sein dürften, bei denen es nicht auf das letzte Gramm ankommt.
Doch nun genug der Worte über das Gewicht, ein Gramm hier und ein Gramm dort, denn wie jeder Radfahrer weiß, ist das nur einer von vielen Faktoren, der das Fahrerlebnis beeinflussen könnte. Für die Profis und noch mehr für Hobbyfahrer spielt auch der Komfort eine große Rolle. Gerade in diesem Bereich soll sich beim neuen Scultura viel getan haben. Durch ein besonderes Konstruktionsverfahren in Kombination mit den flachen Sitzstreben soll sich ein angenehmes Gleichgewicht zwischen Steifigkeit und Flex einstellen – ob es das Scultura schafft, auf diesem schmalen Grat zu wandeln, werden wir später in der Praxis sehen.
Möglich wurden gerade die auffallend flachen Sitzstreben dadurch, dass die Hinterradbremse von dort beim neuen Scultura auf die Unterseite, kurz hinter das Tretlager wandert. Standesgemäß kommt das Merida-Rad natürlich komplett mit innenverlegten Zügen und Leitungen – in der Vergangenheit gab es hier immer wieder Probleme mit Klappern im Inneren, doch um bereits einige Praxiserfahrungen vorwegzunehmen – dieses nervige Klappern konnten wir am Merida glücklicherweise nicht feststellen. Außerdem schlägt sich der Trend zu breiteren Reifen auch beim neuen Scultura nieder: Standardmäßig kommt die Team-Edition mit 25mm breiter Bereifung von Continental, mit Ach und Krach fänden wohl sogar 28mm Varianten Platz, auch wenn dies vom Hersteller so nicht vorgesehen ist. Zu guter Letzt wurde auch die Aerodynamik verbessert – hier sind Erfahrungswerte von der Entwicklung des Aero-Racers Merida Reacto eingeflossen.
Geometrie
Natürlich hat sich auch die Geometrie von Straßenrädern in den vergangenen Jahren verändert und die Entwicklung gleicht einem ständigen Optimierungsprozess – so ist es kaum verwunderlich, dass auch es auch beim neuen Scultura einige Veränderungen im Vergleich zu den Vorgängern gibt. Für Fans der ‚alten‘ Geometrie gibt es jedoch keinen Grund zur Panik – auch das Merida Scultura 2016 behält seinen eigenen Charakter. Dazu gehörte in der Vergangenheit die große Agilität der taiwanesischen Rennmaschine – ursächlich hierfür waren vor allem die ultrakurzen Kettenstreben, die auch 2016 trotz erhöhter Reifenfreiheit mit 400mm sehr kurz bleiben (zum Vergleich: Canyon Ultimate CF SLX: 410mm, S-Works Tarmac: 405mm, Trek Emonda: 410mm).
Auf Wunsch der Profis von Lampre-Merida wird die Geometrie 2016 außerdem eine ganze Spur niedriger, länger und sportlicher als zuvor. Der Reach wird größer, das Steuerrohr kürzer und die Sitzposition damit gestreckter und aerodynamischer. Mir persönlich kam dies sehr entgegen, da ich eine im Verhältnis zur Körpergröße geringe Schritthöhe (188cm/87cm) habe und mir die meisten Rahmen deshalb etwas zu kurz sind oder ich gezwungen bin, zu sehr langen Vorbauten zu greifen. Das Scultura Team in Größe 56cm passte mir mit seinem Reach von 399mm aber wie angegossen.
Das Scultura ist damit ein Traum für sportive Fahrer, die eine niedrige Sitzposition bevorzugen und gerne etwas gestreckter im Sattel sitzen. Wer hingegen gerne etwas aufrechter sitzt, muss sich wohl mit einem kürzeren Vorbau und einer entsprechenden Anzahl von Spacern darunter behelfen.
Ausstattung
Die Ausstattung des Merida Scultura Team lässt wahrlich keine Wünsche offen – wenig überraschend, immerhin müssen die verbauten Komponenten auch auf den härtesten Etappen und Rennen der Saison bestehen. Standesgemäß verbaut Merida hier eine Dura-Ace Gruppe von Shimano in mechanischer Ausführung. Der Rahmen ist aber natürlich Di2-vorbereitet und eine Umrüstung folglich kein Problem. Die Kurbel kommt vom spanischen Hersteller Rotor – der 110mm Lochkreis ermöglicht Abstufungen von 50/34 bis zu 53/39. Ab Werk kommt die Kurbel mit 52/36, was wohl für die meisten Fahrertypen und Terrains einen guten Mittelweg bietet. Obendrein lassen sich die Rotor Kurbeln schnell und günstig zu Rotor InPower Leistungsmesskurbeln umbauen (siehe Test).
Cockpit und Sattelstütze kommen komplett von FSA: Der edle K-Force Compact Lenker ist ergonomisch sehr gelungen und fügt sich optisch perfekt zum OS-99 Carbonvorbau. Die Laufräder stammen ebenfalls aus italienischem Hause: Die Fulcrum Racing Zero Carbon gehören momentan sicherlich zum besten, was man für Geld in diesem Bereich kaufen kann. 1358g bringt der Laufradsatz in der Clincher-Variante auf die Waage und kommt dabei mit 30mm hohen Carbonfelgen, Aero-Speichen aus Aluminium und Nabenkörpern aus Carbon. Keramiklager sorgen für entsprechend wenig Widerstand und guten Werten bei der Langlebigkeit.
Auf der Straße
Genug der Theorie, ab auf die Straße mit dem Merida Scultura Team. Im ersten Moment fällt die sehr sportliche Sitzposition auf. Nicht unangenehm, auch weil ich persönlich gerne gestreckt auf meinen Rädern sitze, aber damit setzt sich das Scultura durchaus von großen Teilen der Konkurrenz ab. Gerade auch als wir auf den Kanaren in einer größeren Gruppe unterwegs waren, und ich mich umblickte, kam es mir vor, als würden meine Mitstreiter auf einem Podest unterwegs sein. Hier entscheiden natürlich persönliche Vorlieben und auch nachträgliches Anpassen ist durch Vorbaulänge und Spacer – wie gesagt kein Problem.
Ansonsten? Richtig stark im Antritt präsentiert sich das Scultura – die Power landet gefühlt unmittelbar auf dem Asphalt und es zaubert mir durchaus ein Lächeln ins Gesicht, hier in die Pedale zu treten. Erfreulich auch, dass es wirklich keinerlei Knacken, Klappern, Quietschen oder sonstige störende Geräusche zu vernehmen gibt – nur das leise Rasseln der Kette bzw. das angenehme Knattern des Freilaufs sind zu hören.
Schön steif präsentiert sich das Scultura zudem: Meine 83kg führen bei dem 800g leichten Rahmen nur zu einem müden Lächeln und ich kann wirklich zu keinem Zeitpunkt ein Verwinden oder sonstige negative Eigenschaften ausmachen. Bezüglich der Aerodynamik erlaube ich mir ehrlicherweise kein abschließendes Urteil, da fehlt mir wohl ganz einfach die Feinfühligkeit. Was jedoch positiv auffiel war, dass das Scultura satt auf der Straße lag und selbst bei schnellen Abfahrten durch die berüchtigten Windböen Fuerteventuras zu jedem Zeitpunkt die nötige Sicherheit vermittelte.
Die Klettereigenschaften überzeugten mich ebenfalls, jedoch hätte ich hier wohl besser auf die 50-34 Abstufung an der Kurbel zurückgegriffen, denn die Kanaren bieten durchaus den einen oder anderen steilen und zähen Anstieg – gut jedoch, dass man dank 110mm Lochkreis diese Option besitzt. Der Komfort bewegt sich in einem für ein Rad dieser Klasse zu erwartenden Bereich, war jedoch für mein Empfinden nicht überragend. Ich war mit rund 6,5 Bar in den 25mm Pneus unterwegs und die schlechten Straßen auf Madeira, La Palma und Co schüttelten mich durchaus etwas durch. Wie gesagt, für ein Rad dieser Klasse war dies im Vorfeld nicht anders zu erwarten, doch hatte ich mir ein klein bisschen mehr erhofft – auch wegen der ansonsten überragenden Performance des Scultura.
Die Ausstattung war erfreulich unauffällig. Der Dura-Ace Antrieb verrichtete wie zu erwarten zuverlässig und gewohnt schnell seinen Dienst, Cockpit und Sattel gaben keinerlei Anlass zur Kritik. Das Bremsverhalten mit den Fulcrum Racing Zero Laufrädern war sehr gut, auch auf längeren Abfahrten, wenngleich wir mit dem Wetter großes Glück hatten und ich nicht in den ‚Genuss‘ einer längeren Regenabfahrt kam.
Fazit
Was bleibt beim Merida Scultura Team unter dem Strich also stehen? Die 6.599€ teure und 6,5kg leichte Rennmaschine überzeugte wie zu erwarten war sowohl auf dem Papier als auch auf der Straße – wenig überraschend für ein Teamrad der Profis. Zu kritisieren gibt es wahrlich wenig – vielleicht der nicht überragende Komfort, der allerdings nur deshalb auffällt, weil er nicht auf dem selben extrem hohen Niveau der anderen Fahreigenschaften lag. Die sportliche und lange Geometrie mag nicht jedermanns Fall sein, gefiel mir persönlich aber ausgesprochen gut. Alles in allem schnürt der taiwanesische Hersteller mit dem Merida Scultura Team ein rundum gelungenes Gesamtpaket zu einem – gemessen an Gewicht, Ausstattung und Verarbeitung – durchaus attraktiven Preis.