Spektrum: Fahrradreifen – optisch oft unscheinbar, spielen sie doch eine im wahrsten Sinne des Wortes tragende Rolle, geht es um gute Performance auf dem Rad. Wir hatten Gelegenheit, einen Blick hinter die Kulissen der Reifenentwicklung bei Specialized zu werfen – in Hessen trafen wir im sogenannten Reifenlabor diejenigen, die wissen, was hinter der schwarzen Gummifassade der Reifen des kalifornischen Herstellers steckt.
Ein Reifen ist ein Reifen ist ein Reifen ist ein Reifen? Nicht ganz!
Schwarz und rund sind sie alle. Diese Aussage – so oberflächlich sie auch sein mag – trifft sicherlich einen Nerv. Denn dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb ein Fahrradreifen für kaum einen Radfahrer denselben emotionalen Stellenwert hat, wie beispielsweise eine Kurbel oder ein Vorbau. Und das, obwohl der richtige Reifen von allen Radkomponenten wohl mit am meisten Einfluss auf das Fahrverhalten besitzt.
Hinter dem zumeist doch recht unscheinbaren Äußeren eines Reifens verbirgt sich jedoch viel mehr, als sich mit dem bloßen Auge erkennen lässt. Das Zusammenspiel zwischen Gummimischung, Karkasse und Profil ist es, das letzten Endes darüber entscheidet, wie gut ein Reifen in der Praxis funktioniert. Die Entwicklung ist ein aufwändiger Prozess, für den nicht nur das entsprechende technische Know-How, sondern ebenso Erfahrung und nicht zuletzt Praxistests eine entscheidende Rolle spielen. „Wie gut ein Reifen funktioniert, lässt sich am Ende des Tages nur auf der Bahn, der Straße oder dem Trail klären,“ weiß einer der Specialized-Reifenbäcker aus seiner jahrelangen Erfahrung.
Doch der Weg eines Pneus vom Papier, bzw. aus den Köpfen der Entwickler bis auf die Felge ist lang und beschwerlich. Auch deshalb entschied man sich bei Specialized vor kurzer Zeit, die gesamte Reifenentwicklung an einem Ort zu konzentrieren – die Wahl fiel hierbei auf Deutschland. „Die Infrastruktur ist hier einfach mit am besten. Zulieferer sind in unmittelbarer Umgebung, Testmöglichkeiten sind gegeben und die Wege sind allesamt sehr kurz,“ erklärt Wolf vorm Walde, der bis vor einiger Zeit noch im kalifornischen Hauptsitz von Specialized sein berufliches Zuhause hatte und nun Teil des dreiköpfigen Reifen-Kompetenzteams in Deutschland ist.
Als er mit einem Funkeln in den Augen davon spricht, wie er mit den richtigen Zutaten für die perfekte Gummimischung jongliert, auf die korrekten Temperaturen achtet, um am Ende gespannt auf das Urteil der Tester zu warten, muss man keine blühende Fantasie oder eine Vorliebe für gewagte Metaphern haben, um an eine Bäckerei oder Konditorei erinnert zu werden. Und wie beim Kuchen kommt auch beim Reifen dem Teig – entschuldigung – der Gummimischung wohl die größte Bedeutung zu.
Die richtige Mischung – Wohl gehütetes Geheimnis der Gummi-Gourmets
Wie entsteht eigentlich eine Gummimischung? Was steckt drin und wer entscheidet darüber, welche ‚Zutaten‘ verwendet werden? Bei Specialized sind die heutigen Reifen-Rezepzte aus dem großen Erfahrungs- und Wissensfundus der Entwickler erwachsen. Ein Gummicompound (wie es in der Fachsprache heißt) besteht immer aus einer Vielzahl an Polymeren, die der Mischung dann ihre entsprechenden Eigenschaften geben. Seien es die Härte, der Grip, das Verhalten bei Nässe und/oder Kälte, der Abrieb oder die Robustheit – alle diese Faktoren lassen sich durch die entsprechende Kombination aus den Gummibestandteilen entscheidend beeinflussen.
Doch trotz aller Erfahrung wäre es wirtschaftliches Harakiri, würde man sich allein darauf verlassen und direkt die Mischung für zig tausende von Reifen ‚backen‘. Um die richtige Mischung zu finden sind deshalb zahlreiche Testphasen mit kleineren ‚Batches‘ – also Stückzahlen – nötig. Hier kommen wir dann jetzt auch zum Reifenlabor, welches wir hier in Hessen besuchen. Vor Ort können die Entwickler nämlich auf moderne Geräte zurückgreifen, mit Hilfe derer sie die Mischungen für kleine Stückzahlen direkt anfertigen können. Die Polymere werden dazu erhitzt, über Walzen vermengt und zu einer homogenen Masse geformt. Auch hier kommen unweigerlich Assoziationen zum Backen: Nicht nur die Zutaten, sondern auch ‚Backdauer‘ und Temperatur sind entscheidende Faktoren.
Ist der Compound schließlich fertig, muss dieser noch einige Trockentests durchlaufen, bevor aus ihm zusammen mit Karkasse ein echter Reifen entsteht. Diese Trockentests erlauben bedingte Rückschlüsse auf Dämpfung, Grip und weitere Eigenschaften. Sind diese vielversprechend, geht die Gummimischung nach Thailand, wo exklusiv für Specialized in einer großen Reifenfabrik dann ein kleiner Satz Testreifen entsteht. „Wenn es ganz schnell gehen muss, packen wir den schwarzen Block in einen Koffer und fliegen rüber,“ erzählt Wolf. Doch auch auf dem regulären Postweg geht der Prozess sehr schnell. „Zwei Wochen“ schätzt er, dauert es von der ‚Backmischung‘ bis er die fertigen Testreifen in den Händen hält.
Die Entscheidung darüber, ob ein Reifen, eine Mischung auch funktioniert, fällt in der Praxis. „Kein theoretischer Wert und kein Labortest kann die Praxis ersetzen,“ sagt Wolf. Bei Specialized durchlaufen die Reifen mehrere Testphasen. Zuerst kommen die fabrikneuen Reifen auf den hauseigenen und selbst konzipierten Prüfstand in Hessen. Hier wird der Rollwiderstand exakt ermittelt und verglichen. Auch bezüglich Haltbarkeit und Pannenschutz müssen sich die Reifen beweisen. Danach bekommen einige wenige Testfahrer – das sind Amateure, ambitionierte Hobbyfahrer und andere Vielfahrer – die Testpneus. Erst wenn diese den Reifen für tauglich einstufen, folgt die nächte Phase – dann sind nämlich die Profis am Zug. Specialized stattet ja bekanntermaßen zahlreiche Profiteams aus, allein drei WorldTour-Teams setzen auf Bikes und Komponenten des kalifornischen Herstellers und auch im MTB-Bereich setzen viele Fahrer und Teams auf die Reifen aus dem Labor von Wolf und Co. „Dann verbringe ich schon mal einen Tag mit Tony [Martin, Anm. d. Redaktion] auf der Bahn, um die neuen Reifen zu testen“, plaudert er aus dem Nähkästchen.
Das Feedback dieser Testfahrer, seien es Profis oder Hobbyathleten, versucht das Specialized-Reifenteam dann so gut es geht umzusetzen. Doch wie schwierig es ist, Wünsche wie ‚Der Reifen schmiert in schnellen Kurven etwas schnell ab‘ oder ‚ein bisschen mehr Grip auf schmierigen Straßen wäre super‘ bei der Vielzahl an beteiligten Faktoren umzusetzen, kann man sich denken. Neben der Gummimischung spielen nämlich auch Karkasse, Profil, Reifendimension und andere Komponenten eine entscheidende Rolle.
Der Teig ist fertig! Zeit für Icing, Form und Sahne: Von der Gummimischung zum fertigen Reifen
Angenommen wir haben am Ende eine fertige und zufriedenstellende Gummimischung: Bei den meisten Reifenherstellern wandert das entsprechende Polymer-Rezept dann in eine der großen Reifenfabriken in Asien, wo dann zuerst die Gummimischung hergestellt, diese mit dem entsprechenden Profil versehen und mit der Karkasse verheiratet wird. In der Vergangenheit traf dieser Produktionsprozess auch für Specialized zu. Doch im letzten Jahr gab es eine kleine, aber entscheidende Änderung.
Die Problematik liegt nämlich in dem eingangs bereits zitierten Umstand, dass Reifen eben alle rund und schwarz sind. Als Hersteller weiß man nicht immer mit vollständiger Sicherheit, was mit dem Rezept geschieht, das man in einem langwierigen Testprozess entwickelt hat und dann aus der Hand gibt. Die großen Fabriken produzieren für viele unterschiedliche Hersteller und wie in jeder Branche ist der Konkurrenzkampf groß – deshalb möchte man sich bei Specialized zukünftig nicht mehr in die Karten schauen lassen. So hat man erreicht, dass die Gummimischung ebenfalls in Asien in einer gesonderten Fabrik produziert wird. Diese stellt Gummis für unterschiedlichste Bereiche her, vom Kühlschrank bis zum Flugzeug. Das schwarze Gummigold geht im Anschluss wiederum an die Reifenfabrik, wo diese dann das fertige Produkt herstellt, ohne zu wissen, wie sich die schwarze Masse zusammensetzt.
Zusammen mit Karkasse und Profil entsteht so ein komplexes Gesamtsystem, das immer nur in seiner Gänze betrachtet und verändert werden kann. Setzt man beispielsweise auf eine sehr weiche Gummimischung mit viel Grip, sollte man auf hohe Seitenstollen verzichten, da diese in den Kurven ansonsten wegknicken und zu schwammigem Fahrverhalten führen. Bei der Karkasse verhält es sich ähnlich.
Eine zusätzliche Herausforderung sind die zahlreichen Reifendimensionen, die es inzwischen vor allem im Mountainbikebereich gibt. Ein Reifen der als 2,25″ 29″ Reifen funktioniert, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in dieser Zusammensetzung als 650b+ (oder 6Fattie, wie es bei Specialized heißt) oder Fatbikereifen versagen. Somit heißt es für Wolf und co. wieder: Das Jonglieren mit Polymeren, Profil und Karkasse geht (fast) von vorne los.