Radsport: Der tragische Tod von Antoine Demoitié hat unter Fahrern, Teams und Verantwortlichen eine Problematik schmerzlich in Erinnerung gerufen, die immer offensichtlicher wird – der Radsport hat ein Sicherheitsproblem. Marcel Kittel äußerte sich nun in einem sehr ausführlichen Beitrag auf seiner Facebookseite zum Thema und fordert umgehende Maßnahmen von der UCI.
Nach dem schlimmen Unglück von Antoine Demoitié ist die Debatte um mehr Sicherheit im Radsport wieder voll im Gange – Profis, Teams, Sponsoren und Verantwortliche fordern unisono Maßnahmen von der UCI, um endlich wieder einen sicheren Sport für die Fahrer zu gewährleisten. Marcel Kittel äußerte sich nun ausführlich auf seiner Facebookseite zum Thema. Der deutsche Topsprinter setzt sich differenziert mit der Problematik auseinander und wägt sorgfältig ab, welche Risiken tragbar sind und welche nicht.
Der Kommentar ist äußerst lesenswert, aus diesem Grund findet ihr ihn hier in seinem kompletten Wortlaut. Wir hätten es nicht besser sagen können. Bravo Marcel Kittel!
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Mit dem Tod von Antoine Demoitié haben wir einen neuen und traurigen Tiefpunkt in der Geschichte des Radsports und seiner Sicherheit erreicht. Immer wieder sagen die Leute, dass das Risiko Teil unseres Jobs sei und Stürze zum Sport dazugehören würden. Das sehe ich auch so – aber nicht in jedem Fall. Jeder Fahrer, der bei einem Sturz verletzt wird, für den er selbst nicht verantwortlich ist, ist einer zu viel. Es gibt einen Unterschied zwischen Stürzen während der hektischen finalen Kilometer eines Rennens, wenn man um das richtige Hinterrad vor dem Sprint kämpft und Stürzen wegen unsicheren Straßen, rücksichtslosem Fahren von Motorrädern und Autos, schlechtem Wetter oder unsicherer Streckenführung.
Wenn das Peloton in die finale Phase eines Rennens geht, oder einen möglicherweise rennentscheidenden Punkt passiert, ist jedem Fahrer bewusst, dass es gefährlich werden könnte. Wir bremsen spät vor der letzten Kurve, wir kämpfen um die Positionen, zögern nicht in Lücken zu stoßen, die eigentlich zu klein sind. Wir stoßen uns sogar gegenseitig, um im Sprint eine bessere Position zu bekommen – all das bei hoher Geschwindigkeit, an unserem körperlichen und mentalen Limit und am Limit unserer Reifen und Bremsen. Dieses Risiko ist kalkuliert und – ich möchte hier nicht drumherum reden – auch einer der Gründe, weshalb ich den Radsport so liebe. Es ist ein echter Kampf um den Sieg! Es macht einen stolz, wenn man das Rennen gewonnen hat, zum Bus zurückkommt und mit den Teamkollegen darüber spricht, wie gut alles geklappt hat, wie tapfer man die Position verteidigt oder erkämpft hat, die im Finale dann den Sieg gebracht hat. Da spricht man dann auch über diese Situationen in denen man um ein Haar gestürzt ist, aber sein Rad in dieser einen Kurve doch noch irgendwie unter Kontrolle bringen konnte. Diese Situationen in denen man voller Adrenalin ist, im Geschwindigkeitsrausch und am Ende vielleicht den Sieg als Belohnung für diese Herausforderungen einfährt: Das sind die Zutaten, die unseren Sport so interessant machen.
Aber in den letzten Jahren wurde immer offensichtlicher, dass der Radsport ein Sicherheitsproblem hat. Gedächtnisstütze gefällig? Greg van Avermaet (San Sebastian), Peter Sagan (Tour of Spain), Taylor Phinney (US Nationals), Stig Broeckx (Kuurne-Brussel-Kuurne), Jesse Sergent (Tour of Flanders) und Jakob Fuglsang (Tour de France) stürzten alle in den letzten beiden Jahren nach Kontakt mit einem Begleitfahrzeug. Im selben Zeitraum erwischte es Peter Stetina (Vuelta Pais Vasco), Tom Boonen (Tour of Abu Dhabi) und Matt Brammeier (Tour of Utah) wegen einer unsicheren Streckenführung.
Viele von den oben genannten Fahrern landeten im Krankenhaus mit schweren, teils Karrierebedrohenden Verletzungen und haben sich in einer langen, schmerzhaften Reha wieder in das Leben zurückgekämpft. Außerdem haben diese Stürze auch den jeweiligen Ausgang des Rennens beeinflusst – das kann doch wirklich nicht im Interesse von irgendjemandem sein. Nicht der Teams, der Organisatoren, Sponsoren, Medien oder dem Radsportfan zuhause. Denkt mal drüber nach: In diesen Momenten gibt es keine Gewinner. Der Fahrer ist verletzt. Der Fahrer des Fahrzeugs muss sein restliches Leben damit klarkommen, jemanden verletzt zu haben – oder sogar schlimmer. Am Ende des Rennens hat man ein Resultat, das nicht nur auf Grund der phsysischen und taktischen Stärken und Schwächen zustandekam. Solche tragischen Ereignisse werden zunehmend mit dem Radsport, aber auch mit Fahrradfahren an sich asoziiert.
Es ist ganz klar: Das größte Problem des Radsports war Doping und man muss weiter dagegen vorgehen. Aber diese offensichtlichen Sicherheitsmängel sollten dieselbe Aufmerksamkeit und Priorität bekommen. Nicht nur, weil dadurch Leben gefährdet werden, sondern auch weil man bis jetzt kaum etwas getan hat. Die letzte große Veränderung war das Wetterprotokoll, das Anfang diesen Jahres eingeführt wurde. Davor war es die Einführung der Helmpflicht 2003 – auch erst nach dem Tod von Andrei Kivilev. Seitdem hat der Radsport aber viele, teils tiefgreifende Veränderungen durchgemacht. Durch die zunehmend globalisierte Welt gibt es Rennen an den entlegendsten Orten des Erdballs. Der effektive Kampf gegen Doping führte außerdem dazu, dass die Konzentration nun noch mehr auf Training, Ausrüstung und Ernährung liegt. Die Fahrer trainieren härter, sind effizienter und suchen nach Verbesserungspotenzial, möge es noch so klein sein. Wir bekommen den besten Support von unseren Teams um besser und schneller zu werden, unsere Radausrüster liefern immer leichtere und schnellere Räder, wir machen Tests im Windkanal um auf 10 Kilometern vielleicht eine halbe Sekunde einzusparen, elektronische Schaltungen ermöglichen es uns, noch schneller zu schalten und seit 2016 dürfen wir auch mit Scheibenbremsen fahren, damit wir später bremsen können. All das führt dazu, dass das Peloton viel schneller fährt und risikobereiter ist. Der Druck, Leistung zu zeigen und vorne dabei zu sein, lastet auf uns allen.
Es gehört zur Entwicklung des modernen Radsports dazu, nicht nur die Fahrer und die Räder zu verbessern, sondern auch die Strecke, auf der das Peloton fährt. Es ist absolut notwenig, höhere und bessere Standards für Profirennen zu setzen – und das sollte nicht Sache der Fahrer sein, sondern darum müssen sich die Organisatoren und die UCI kümmern. Es ist zu einfach zu sagen: ‚Die Fahrer fahren die Rennen, also tragen sie auch die Verantwortung.‘ Das stimmt einfach nicht. Es gibt bei jedem Rennen so viele Dinge, die nicht in der Macht der Fahrer liegen: Gefährliche Zieleinfahrten, all die Begleitfahrzeuge, Zuschauer und das Wetter – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Die Fahrer sind beschäftigt genug, sich auf das Rennen zu konzentrieren und müssen sic hdeshalb auf die Organisatoren und das Regelwerk verlassen können, dass sie von erfahrenen Leuten sicher über sorgfältig ausgesuchte Straßen geführt werden.
Wir müssen alle zusammenarbeiten, um den Sport sicher zu gestalten und damit dem tragischen Tod von Antoine Demoitié eine Bedeutung geben. Es wäre großartig, wenn wir dadurch einige wichtige Veränderungen erleben und den Beginn einer Entwicklung hin zu mehr Sicherheit markieren könnten. Wir müssen jetzt endlich anfangen, ehrlich und offen darüber zu sprechen. Das ist es, was ich von meinem Verband und meiner Fahrergewerkschaft erwarte. Es wäre schon einmal ein Anfang, wenn nur erfahrene und gut ausgebildete Fahrer in den Autos und auf den Motorrädern sitzen würden. Zudem sollte man eine Statistik über Unfälle und Stürze führen, um Entwicklungen frühezeitig erkennen und entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.
Morgen am Start der Drei Tage von De Panne werden wir um Antoine trauern und ihm nach diesem furchtbaren Unfall die letzte Ehre erweisen. Wir sind es Antoine schuldig, sicherzustellen, dass so etwas nie wieder passieren kann.
Marcel Kittel
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