Radsport: Gestern schrieb Mark Cavendish Geschichte, indem er seinen 35. Tagessieg bei einer Tour de France einfuhr. Doch wie konnte es zu diesem Etappenerfolg kommen, wo ihm doch vor Beginn der Rundfahrt kaum jemand diesen Triumph wirklich zugetraut hat? Wir analysieren den Etappensieg von Mark Cavendish Bild für Bild und vergleichen sein Verhalten im Massensprint mit dem von Arnaud de Lie und Phil Bauhaus.
Cavendish sucht das perfekte Hinterrad
Es ist kein Geheimnis, dass das begehrteste Hinterrad in einem Massensprint jenes von Jasper Philipsen (blau) ist. Der Belgier hat zuletzt immer wieder bewiesen, dass er eigentlich der schnellste Mann in einem Sprint Royal ist. Zudem hat er mit Weltmeister Mathieu van der Poel den schnellsten Anfahrer. Mark Cavendish (grün) selbst kann in seinem Team Astana nicht auf einen so starken Anfahrer bauen. Daher liefern ihn seine Teamkollegen innerhalb des letzten Kilometers an einem möglichst brauchbaren Hinterrad ab. Dann muss sich Cav selbst durchschlagen. 800 Meter vor der Ziellinie wirkt der Brite noch etwas orientierungslos. Phil Bauhaus (gelb) hingegen hat sein Wunsch-Hinterrad gefunden. Er klebt hinter Philipsen und ist bereit für den Sprint. Arnaud de Lie (rot) hingegen, befindet sich viel zu weit hinten und ist nun auf extrem viel Glück angewiesen, um wieder nach vorn zu kommen.
Drei Fahrer kämpfen um das Hinterrad von Philipsen
250 Meter später hat sich das Bild komplett verändert. Mark Cavendish ist es gelungen, das Hinterrad von Jasper Philipsen zu erobern. Dabei muss er sich auf einen direkten Fight gegen Phil Bauhaus einlassen. Der Deutsche muss sich aber nicht nur gegen den Briten wehren, denn auch von rechts will ihm Fernando Gaviria den Rang streitig machen. Bauhaus kommt fast zu Fall und muss sich komplett neu orientieren. Für ihn ist der Sprint damit eigentlich schon gelaufen, während Cavendish nun die beste Position inne hat. Arnaud de Lie hingegen hat sich für die linke Seite entscheiden müssen, da ihm der Weg nach rechts verwehrt blieb. Er versucht nun den Zug von Lidl – Trek zu kapern. Denn die fahren links mit zwei Mann ganz vorn, haben aber ihren Sprinter Mads Pedersen vergessen mitzunehmen. Der Däne ist hier im Bild nicht zu sehen.
Cavendish schaltet auch Gaviria aus
Da Mark Cavendish nun sein Wunsch-Hinterrad gefunden hat, muss er sich jetzt gegen die Angriffe anderer behaupten. Fernando Gaviria lehnt sich an und will ihm den Platz streitig machen. Doch der Brite lässt sich nicht vertreiben. Im Gegenteil: Gaviria verliert diesen Positionskampf, muss einige Tritte auslassen. Auch für ihn ist der Sprint damit gelaufen.
Bauhaus wird wieder abgedrängt – und sogar bestraft
Wie schnell man in einem Massensprint von der perfekten Position ins Hintertreffen geraten kann, zeigt uns Phil Bauhaus. Der Deutsche befand sich noch vor wenigen Sekunden am Hinterrad von Jasper Philipsen. Dann wurde er von Cavendish und Gaviria in die Mangel genommen und nun drängt ihn auch noch Sam Bennett ab. Erneut muss Bauhaus einige Tritte auslassen. Er wird sich nun auf die linke Seite umorientieren, ist aber chancenlos. Die Jury versetzt ihn später sogar auf Rang 171 zurück, da er zu sehr seine Schultern eingesetzt haben soll. Derweil sehen wir ganz vorne Mathieu van der Poel. Der sogar seine linke Hand vom Lenker nimmt, was strengstens verboten ist. Damit verschafft er sich Platz, denn er wäre fast auf der rechten Seite vom DSM-Profi eingeklemmt worden. Hätte sich dieses Problem nicht ganz knapp gelöst, wären die Sprinter auf der rechten Fahrbahnseite chancenlos gewesen. So aber sorgt Mathieu van der Poel für Platz und damit die Siegchance aller Fahrer hinter ihm.
Van der Poel zieht Philipsen den Sprint nicht an
Wenig später blickt sich Mathieu van der Poel um. Der Niederländer sucht seinen Sprinter Jasper Philipsen, der sich direkt hinter ihm befindet. Wäre Van der Poel in absoluter Topform, würde er sich hier nicht umdrehen, sondern den Sprint für seinen Kapitän lancieren. Doch ihm fehlt aktuell die Power, weshalb er Philipsen lieber am Hinterrad eines Kontrahenten abliefert. Aber Daniel McLay ist nicht schnell genug, womit Philipsen ausgebremst wird.
Cavendish surft ans Hinterrad von Ackermann
Der Zug auf der linken Seite um die Profis von Lidl – Trek und Israel – Premier Tech ist schneller, obwohl wir uns gleich in einer langgezogenen Rechtskurve befinden. Mark Cavendish spielt hier seine ganze Erfahrung aus. Denn anstatt am Hinterrad von Philipsen zu bleiben, springt er nun ans Hinterrad von Pascal Ackermann, welches er in dieser Situation – zurecht – als schneller empfindet. Arnaud de Lie befindet sich noch immer zu weit hinten. Er wartet auf Grund des starken Gegenwinds extrem lange.
Auch Philipsen muss sich geschlagen geben
Nun kommt es zum Duell zwischen Mark Cavendish und Jasper Philipsen. Denn nachdem Daniel McLay rausgeht, steht der Belgier unter Zugzwang. Er muss an ein anderes Hinterrad springen, scheitert jedoch beim Versuch, Cavendish das Hinterrad von Ackermann abzuluchsen. Ganz vorn sehen wir immer noch Lidl – Trek, die den Sprint weiter anfahren, ohne ihren Sprinter Mads Pedersen dabei zu haben.
Ackermann fehlt die Endschnelligkeit
So kann sich Pascal Ackermann den Sprint von Ryan Gibbons perfekt anfahren lassen, doch dem Deutschen fehlt es deutlich an der Endschnelligkeit. Er wird noch auf Rang sechs durchgereicht. Letztendlich zieht er Mark Cavendish hier den Sprint perfekt an.
Cavendish macht den Schulterblick
Anschließend setzt Mark Cavendish zum entscheidenden Move an. Er macht den Schulterblick und stellt sicher, dass er niemandem in die Parade fährt, wenn er auf die linke Fahrbahnseite zieht.
De Lie wird blockiert
Nun versucht Jasper Philipsen zu folgen. Doch der Belgier hat bereits einige Meter Rückstand und muss ebenso wie Mark Cavendish einmal komplett die gesamte Fahrbahn überqueren. Als er das Hinterrad von Cavendish erreicht, ist es bereits zu spät. Deutlich zu Spät hat auch Arnaud de Lie den Turbo gezündet. Obwohl er vermutlich der endschnellste Fahrer war, hat es ihm komplett am Timing gefehlt. Außerdem hat er auch die Portion Glück nicht gehabt. Eigentlich wollte er links an Alexander Kristoff vorbeiziehen. Doch der Norweger ließ keinen Platz zwischen ihm und der Bande. Als De Lie rechts vorbeifahren wollte, kam ihm Arnaud Demare in die Quere. Um Mark Cavendish noch einzuholen, wäre er aber ohnehin zu spät dran gewesen.
Fazit: Cavendish clever, van der Poel schwach
Die Gründe für einen Etappensieg bei einem Radrennen im Massensprint sind vielseitig. Ebenso können die Gründe vielschichtig sein, wenn es eben mal nicht klappt. Aktuell sieht es bei der Tour de France 2024 so aus, als wäre das Duo Van der Poel/Philipsen nicht annähernd so stark wie im Vorjahr. Es ist offensichtlich, dass der Niederländer nicht die Power hat wie 2023. Aber auch Jasper Philipsen selbst trifft bislang nicht die richtigen Entscheidungen. Bei Mark Cavendish hat im Sprint auf der fünften Etappe einfach alles gepasst. Er hat die Beine gehabt und die richtigen Entscheidungen getroffen. Arnaud De Lie hat die Teamleitung wohl gesagt, dass er extrem lange warten soll. Anders ist nicht zu erklären, warum er diesen Sprint so abwartend angegangen ist, obwohl durchaus Platz gewesen wäre, sich etwas weiter vorn zu platzieren. Wir dürfen gespannt sein, wie es mit den Sprintern weitergeht.