Redaktion: Rennradfahren in Sandgruben, Sprünge über Hindernisse, geschulterte Räder beim Treppensteigen – was macht Cyclocrossrennen so besonders? Velomotion-Redakteur Moritz Pfeiffer suchte die Antwort im Schlamm.
Ich muss gestehen: Was Crossrennen angeht, bin ich ein unbeschriebenes Blatt. Obwohl ich seit 10 Jahren im Winter – und hin und wieder auch im Sommer – auf Crossrädern unterwegs bin, habe ich mich noch nie an ein Rennen gewagt. Cross zu fahren bedeutete für mich bisher, abwechslungsreiche Strecken abseits des Asphalts zu finden und an der eigenen Fahrtechnik zu feilen. Crossrennen habe ich eher als belgisches Phänomen wahrgenommen, als Verknüpfung von Hochleistungssport und Volksfest. Der Stern des belgischen Großmeisters Sven Nys ging Ende der 1990er Jahre auf, als ich zum Rennradfahren kam. Nys fährt immer noch, und endlich ist auch in mir der Entschluss gereift, meine Premiere bei einem Querfeldein-Rennen zu feiern.
Premiere in Albstadt
So stehe ich am Dreikönigstag am Start des Jedermann-Rennens im Rahmen des Challenge Cyclocross Race in Albstadt. Ein Grad Außentemperatur, Nieselregen, matschige Wiesen, schweres Geläuf. Lektion eins, die ich lerne: Beim Crossrennen wird aus einer bestimmten Reihenfolge gestartet. Auf dem Boden ist für jeden Fahrer ein eigenes Startfeld aufgezeichnet, aus dem heraus er das Rennen aufnimmt. Sechs Fahrer passen in eine Reihe. Da beim Albstädter Rennen der Zeitpunkt der Anmeldung über die Startaufstellung entscheidet, hätte ich weit vorne gestanden – wenn ich pünktlich da gewesen wäre. Doch aufgrund der Kälte rolle ich erst wenige Minuten vor dem Start zur Linie. Da ist das Aufstellungsprozedere bereits abgeschlossen, und ich stehe ganz hinten. Um es vorweg zu nehmen: Dass ich nicht gewonnen habe, lag nicht an meiner Positionierung beim Start.
Knapp 50 Fahrer und eine Fahrerin stehen dicht bei dicht. Der Blick in die Runde zeigt sehr unterschiedliche Gesichtsausdrücke: Respekt, Pokerface, entschlossene Konzentration. Matthias und Stefan aus Stuttgart stehen wie ich zum ersten Mal an der Startlinie eines Crossrennens. Sie wollen mal was Neues ausprobieren, sagen sie, über den Tellerrand des reinen Rennradfahrens blicken. Ambitionen haben sie keine, ihnen geht es um den Spaß. Lukas aus Tübingen hingegen strahlt das Selbstbewusstsein des erfahrenen Rennfahrers aus. Er startet normalerweise bei Mountainbike-Rennen und ist die Hatz über schmierigen Untergrund, Wurzeln und Steine gewohnt.
Was das Material angeht, ist alles vertreten. Sündhaft teure Carbon-Boliden stehen neben edlen Titan-Flitzern, solide Alu-Renner neben schicken Stahl-Crossern. Mein Testrad von Storck fügt sich da nahtlos ein. Dazu haben sich einige Mountainbikes ins Feld gemischt. So bunt das Fahrerfeld, so erfreulich ist auch seine Größe. Das Jedermann-Rennen ist das zahlenmäßig am besten besetzte Rennen des Tages, selbst beim Elite-Rennen am Nachmittag ist das Feld deutlich kleiner. Zum Vorjahr hat sich die Teilnehmerzahl bei den Jedermännern fast verdreifacht. Vielleicht kein Zeichen für einen Cross-Boom, aber eine schöne Bestätigung für die Veranstalter, die das Albstädter Crossrennen erst im letzten Jahr aus der Taufe gehoben haben.
Radrennen auf Bahnschienen
Dann fällt der Startschuss, und wir sprinten los. Lektion zwei: Crossrennen sind Vollgasveranstaltungen. Ein Dahinrollen im Feld gibt es nicht. Die Spitzkehre am Ende der ersten Geraden ist das erste Ziel. Wer hier in einer guten Position herumkommt, fährt weit vorne durch das folgende Kiesbett und in den ersten schlammigen Anstieg. Es folgt die ungewöhnlichste Passage, die ich je in einem Radrennen gesehen habe: Nach einem Anstieg gilt es, das Rad zu schultern und über einen steilen, stillgelegten Bahndamm zu klettern. Nach einem kurzen Trail entlang der Schienen kreuzt man diese wieder in einer steilen Abfahrt. Lektion drei: Auch die anderen haben Respekt vor technisch anspruchsvollen Passagen, es ist keine Schande, das Rad zu schultern. Die Abfahrt über die Bahnschienen wird auch von einer Mehrheit der Lizenzfahrer bei den nachfolgenden Rennen laufend bewältigt.
Nach diesem außergewöhnlichen Auftakt hält der Parcours typische Cross-Passagen bereit: Hindernisse, eine Sandgrube, Treppen. Die Veranstalter haben einen nach eigener Aussage „anspruchsvollen Kurs“ konzipiert, „der auch die Profis fordert.“ Lektion vier: Manchmal ist man mit geschultertem Rad schneller als fahrend. Die tiefe Sandgrube ist dafür das beste Beispiel. Regelmäßig bleiben hier Fahrer stecken und werden von Läufern überholt.
Bereits auf der ersten Runde trennt sich die Spreu vom Weizen. Die Spezialisten setzen sich spielend vom Gros der Jedermänner ab, viele finden ihr eigenes Tempo, es gibt nur noch marginale Positionsverschiebungen. Ich selbst pendle mich auf Rang 35 ein. Auf dem schlammigen Untergrund tanzt das Rad unter mir. Mit Ausnahme einer längeren Passage im Albstädter Stadion, die auf Asphalt gefahren wird und etwas Erholung bietet, ist man dauerkonzentriert, sucht ständig die ideale Linie. Treten, lenken, bremsen, abspringen, laufen… Crossrennen fordern ohne Unterlass Körper und Kopf.
Die Freude am Spielen im Schlamm
Von der aufgeweichten Wiese wird der Schlamm aufgewirbelt, binnen Sekunden sehen Rad und Fahrer aus wie durch den Kakao gezogen. Vielleicht liegt die Faszination bei Crossrennen auch in der Freude am Spielen im Schlamm, wie man sie aus Kindheitstagen kennt. Weltweit explodieren derzeit auch die Anmeldezahlen für Schlamm-Hindernisläufe á la Tough Mudder, Getting Tough und Mission Mudder. Beim Crossrennen hat man halt noch ein Fahrrad dabei. Erstaunlich ist, wie schwer einem auch ein federleichtes 8,5-Kilogramm Cross-Rad vorkommen kann, wenn man zum x-ten Male abspringt und es schultert. Lektion fünf: Cross ist ein Ganzkörper-Sport.
Bei Rennhälfte fängt es an zu schneien. Ich glaube, so muss das sein bei einer Cross-Premiere. Sonnenschein, 10 Grad und eine staubtrockene Piste hätten mich heute nicht glücklich gemacht. Ich stelle mir vor, wie es wäre, nun wie in Belgien durch einen engen Zuschauerkanal zu fahren, zehntausende Supporter rings herum, die sich in Bierzelten und an Frittenbuden laben und die Sportler lautstark anfeuern. Das wird der nächste Schritt, beschließe ich: Ein Jedermann-Crossrennen im Mutterland dieses Sports.
Nach 30 Minuten überrundet mich die Spitze. Die Fahrer spielen mit dem Schlamm, dank ihrer kräftigen Tritte scheinen sie zu schweben. Ich habe das Gefühl, ich wühle mich mit meinem Gestampfe immer tiefer in die Erde hinein. Plötzlich schießt auch Lukas aus Tübingen von hinten an mir vorbei. Er wird am Ende Vierter des Rennens.
Zur Nachahmung empfohlen
Dann ist auf einmal alles vorbei. Ausrollen hinter der Ziellinie, schweres Atmen, Abklatschen mit den anderen Fahrern. Dreckverschmierte, lachende Gesichter, das ein oder andere ungläubige Kopfschütteln. Man tauscht sich aus: Wie bist Du diese Passage gefahren? Bist Du da gelaufen oder gefahren? Wann lief es gut? Wo gingen die Lichter aus? Stefan aus Stuttgart bringt es für viele Teilnehmer auf den Punkt: „Spaß gehabt, nicht gestürzt, nicht Letzter geworden.“
Lektion sechs: Übung macht den Meister. Ein Crossrennen stellt sehr unterschiedliche Anforderungen an den Fahrer, die man trainieren muss. Doch wer sich heranwagt, erhält einen spannenden Einblick in eine besondere Spielart des Radsports. Ein Ausflug in diese Welt macht Spaß und lohnt sich. Aber Vorsicht: Crossrennen bieten Suchtpotenzial. Lektion sieben: Nach dem Rennen ist vor dem Rennen.
Hintergrund:
Das Challenge Cyclocross Race in Albstadt powerd by Centurion fand am 6. Januar 2016 zum zweiten Mal statt. Es ist der internationalen UCI-Kategorie C2 zugeordnet. Gefahren wurde auf einem 2,5 Kilometer langen Rundkurs am Stadion in Albstadt-Ebingen. Der deutsche Vizemeister Sascha Weber gewann das Eliterennen, bei den Damen siegte Stephanie Paul. Gut 140 Athletinnen und Athleten gingen bei den sieben Rennen an den Start, im Vorjahr waren es 64. Veranstalter sind die Agentur Skyder Sportpromotion und die RSG Zollernalb.