Radsport: Fabian Cancellara hat alles erreicht. Er wurde Weltmeister und Olympiasieger. Was es heißt, am Boden zu liegen, weiß er aber auch. Im Interview rät der Schweizer jungen Sportlern, sich einen Mental-Trainer zu nehmen. Schließlich hätten sie in den vergangenen Monaten gelitten. Das Problem? Lange Zeit gab es für sie wegen der Corona-Pandemie keine Wettkämpfe. Für die Sportler sei das der Super-Gau. Fabian Cancellara spricht über sein Seuchenjahr, seine Hotline für Spitzen-Athleten und die Schockstarre der Spitzensportler. Das Interview führte Andreas Haslauer von der Agentur Shortcuts.
Herr Cancellara, früher saßen Sie mehr als 30.000 Kilometer im Jahr im Sattel. Nun mussten Sie in den vergangenen Wochen zuhause bleiben. Vermissten Sie Ihr Arbeitsgerät?
Fabian Cancellara: „Nein, weil ich fast jeden Tag auf dem Rennrad saß. Auf meinem Rollentrainer. Natürlich wäre es an der frischen Luft und in der Natur viel schöner gewesen. Mal so eine Abfahrt vom Mount Ventoux oder dem Stilfser Joch genießen, war nicht drin. Und so schlecht war es auf der Rolle nicht. Man muss ständig strampeln, ansonsten würde man runterplumpsen. Dadurch ist das Fahren auf der Rolle effizienter als draußen.“
Wieso ist das so?
Fabian Cancellara: „Die sogenannten Junk Miles oder Trash Miles – also quasi leere Kilometer – gibt es nicht. Ein Ausrollen oder ähnliches gibt es nicht. Man pedaliert immer, wirklich immer.“
Ist das nicht furchtbar langweilig?
Fabian Cancellara: „Wenn ich mehr Action in den eigenen vier Wänden möchte dann zwifte ich einfach. In der virtuellen Welt kann ich gegen wen auch immer auf dieser Welt Rennen fahren oder eine gemütliche Genussfahrt unternehmen. Ganz nach dem Motto: Alles kann, nix muss.“
Ein bisschen müssen Sie sich ja fit halten, schließlich starten im Herbst die Beat the Best-Rennen Chasing Cancellara. Dabei haben Hobby-Pedaleure die Möglichkeit gegen Sie zu fahren. Zwar stehen offiziell Spaß und Vergnügen im Vordergrund, dennoch wollen die Hobby-Radrennfahrer am Ende natürlich nur eines: Sie besiegen!
Fabian Cancellara: „Sagen wir es so: Wir planen mal weiterhin mit den Rennen. Das hängt einzig und allein vom weiteren Verlauf des Corona-Virus ab. Das einzige was ich weiß, ist, dass mir das alles mächtig Spaß macht und ich mich heute schon wie ein kleines Kind auf die Rennen freue. Natürlich bin ich wie alle anderen auch ehrgeizig, will es aber nicht mehr so wissen wie zu meiner Profi-Zeit. Heute gehe ich viel gelassener an den Start.“
Haben Sie nicht ein ungutes Gefühl bei den Planungen?
Fabian Cancellara: „Einerseits will ich der Verantwortung gegenüber meinen Mitmenschen gerecht werden. Andererseits will ich den Radfahrern, die seit Monaten auf das Rennen hin fiebern, nicht ihre Vorfreude nehmen. Aus eigener Erfahrung weiß ich ja nur zu gut wie es ist, wenn man auf ein bestimmtes Ziel hin trainiert. Dieses Ziel will ich weder ihnen noch mir nehmen.“
In einem Interview haben Sie mal gesagt, dass jeder eine Herausforderung braucht …
Fabian Cancellara: „…egal ob man ein Sportler oder Nicht-Sportler ist. Man steigert seine Leistung peu à peu, je näher die Veranstaltung oder der Wettkampf rückt. Das ist das Eine. Das Andere ist, dass man auf diesem Weg dorthin seine Denkweise auf so vieles schärft. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. 2006 schickte uns Bjarne Riis, unser damaliger Team-Manager beim Team Saxo Bank, in so genannte Überlebens-Camps in Norwegen, Dänemark und Südafrika. Er wollte, dass wir nicht nur gute Rennradfahrer sind. Er wollte auch, dass wir mit den Aufgaben und Herausforderungen als Mensch wachsen. „Ihr müsst Eure Komfortzone verlassen, sonst schränkt ihre Eure Sichtweise und Freiheit ein“, hat er gesagt.“
Die Möglichkeit, sich einem Wettkampf zu stellen, hat derzeit fast kein Profi auf der Welt. Die Fußball-EM wurde abgesagt, ebenso Olympia und alle anderen Großveranstaltungen.
Fabian Cancellara: „Für jeden einzelnen Sportler ist das der absolute Super-Gau. Ich stelle mir das so vor, als würde ich gerade irgendwo da draußen im Ozean schwimmen, wüsste aber gar nicht wohin ich kraulen sollte – weit und breit kein Horizont in Sicht. Ich würde durchdrehen. Monatelang habe ich mich vorbereitet, gelitten und gequält. Und jetzt? Kein Ziel vor Augen.“
Warum ist das so schlimm für einen Sportler?
„Der Sportler richtet alles auf ein Ziel hin aus. Wenn ihm dann seine Arbeitsgrundlage – in vielen Fällen auch Existenz – genommen wird, dann weiß er nicht weiter.“
Was raten Sie ihm? Immerhin haben Sie während Ihrer Profi-Karriere alles erreicht was man erreichen kann. Aber gleichzeitig auch alles durchgemacht, was man durchmachen kann.
„Zwei Dinge würde ich ihm raten. Erstens soll er die Situation annehmen. Zweitens das Beste daraus machen. Wenn der Sportler das befolgt, dann hat er schon mal zwei Sachen richtig gemacht. Natürlich hört sich das alles völlig logisch an. Die Realität sieht jedoch so aus, dass viele Spitzenathleten seit Wochen in einer regelrechten Schockstarre verfallen sind.“
Was sollten die Sportler partout vermeiden?
„Sie sollten sich bloß nicht physisch und psychisch komplett verausgaben. Denn wenn es eines Tages wieder losgeht, fehlt ihnen die Substanz. Es wird Athleten geben, die gestärkt aus der Krise hervorgehen werden und andere eben nicht.“
Michael Phelps, der amerikanische Schwimm-Star, sagte: „Wäre mir das passiert, wäre ich angesichts der Unsicherheit ausgeflippt. Als jemand, der einige wirklich tiefe Phasen der Depression durchgemacht hat und immer noch damit zu tun hat, hoffe und bete ich, dass jeder dieser Sportler in dieser Situation psychische Hilfe bekommt.“ Er befürchtet sogar, dass sich einige Spitzensportler etwas antun könnten. Er spricht von Suizid.
„Deswegen würde ich jedem Spitzensportler raten, sich unbedingt an einen vertrauensvollen Psychologen zu wenden. Wobei ich das Wort Psychologe nicht so gerne mag. „Mental Coach“ trifft es besser, denke ich.“
Haben Sie während Ihrer Profi-Jahre auch mal einen konsultiert?
„Während meiner Schwächephase 2012 habe ich mit einem zusammen gearbeitet. Nichts wollte in dem Seuchenjahr klappen, ich habe damals einen Sturz nach dem anderen fabriziert. Ich war mit meiner Familie im Tessin im Urlaub – und irgendwie war ich doch nicht richtig dort. Zumindest nicht dem Kopf. Ich konnte weder mit meinen Kindern ins Wasser springen noch mit ihnen wilden Sachen machen. Ich war nicht mehr der lustige Papa.“
Hatten Sie ein Burnout?
„Ich war einfach mental total erschöpft. Ich hatte fast schon eine Depression. Die hat zwar nicht über Wochen und Monate angehalten, dennoch hatte ich tagelang das Gefühl, dass ich in ein schwarzes Loch fallen und dort unten liegen bleiben würde. Deswegen kann ich jedem Sportler nur dazu raten, auf einen Mental-Trainer zuzugehen und mit ihm zu arbeiten.“
„Athleten sind zwar trainiert zu verdrängen. Deshalb können sie ganz gut über eine gewisse Zeit mit Unsicherheiten umgehen“, sagte der Psychologe Valentin Markser nun in einem Interview. Doch je länger der Zustand andauere, desto mehr steige die Gefahr, dass Sportler von der Angst überrollt werden könnten.
„Niemand ist perfekt. Fast jeder Mensch hat einen Rucksack zu tragen. Der eine Mensch muss noch seine Kindheit verarbeiten, der andere eine Kündigung oder einen Trauerfall. Aus diesem Grund sollte jeder – und ich meine wirklich jeder – so schnell wie möglich Hilfe in Anspruch nehmen, wenn er mitbekommt, dass er mit diesem aktuellen Ausnahmezustand überfordert ist und einfach nicht zurechtkommt. Ich zum Beispiel telefoniere derzeit mit vielen jungen Sportlern und zeige ihnen Mittel und Wege auf, wie sie aus der Misere herauskommen.“
Was raten Sie den Jung-Profis?
„Achtet nicht auf Euren Puls und Eure Herzfrequenz, sondern fahrt Rad weil es der schönste Sport der Welt ist. Hört in Euch rein. Was wollt ihr heute machen? Wenn ihr eine Antwort habt, macht das einfach. Denkt dran: Ihr seid Menschen und keine Roboter.“
Das könnte man bei Ihnen meinen: Sie sind Doppel-Olympiasieger, Vierfach-Weltmeister und Mehrfach-Sieger der Eintages-Klassiker Paris – Roubaix, „Mailand – Sanremo“ und der legendären Flandern-Rundfahrt. Was machen Sie aber heute den ganzen Tag, außer junge Profis in der Krise mental unterstützen?
„Ich führe ein wunderbares Leben ohne Stress und ohne Reisen. Das war zumindest mein Plan während meiner aktiven Zeit als Rennradfahrer. Nun führe ich wieder ein Leben mit Stress und mit vielen Reisen (lacht). So habe ich es mir aber ausgesucht. Ich bin glücklich.“
Wieso tun Sie sich das an?
„Einfach so auf dem Sofa zu liegen ist nicht mein Ding. Das war es noch nie und das wird es nie sein.“
Wie sieht der Alltag im Hause Cancellara aus?
„Heute Morgen bin ich mit meinen beiden Töchtern und meiner Frau Stefanie um halb sieben aufgestanden, dann haben wir erst mal entspannt gefrühstückt. Nun sitzen wir beide hier zum Gespräch zusammen. Gleich danach habe ich ein Meeting. Zur Mittagszeit möchte ich wieder zuhause sein um mit meiner Familie Mittag zu essen. Und dann geht es aufs Rad. Wenn ich vom Rollentrainer absteige habe ich mir einen Espresso und ein großes Stück Kuchen verdient. Perfekt abgerundet ist der Tag dann für mich, wenn wir alle vier gemeinsam zu Abend essen. Auf dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, auf dieses Miteinander musste ich wegen meiner Karriere lange warten. Jetzt genieße ich jede Sekunde.“
Seit dem vergangenen Jahr arbeiten Sie mit der Firma Gore zusammen. Wie können Sie als ehemaliger Profi einem Sportartikelkonzern helfen?
„So wie ein Radrennfahrer noch das letzte Hundertstel aus sich herauskitzeln kann, so kann selbst eine erfolgreiche Marke auch noch die eine oder andere Kleinigkeit verbessern. Ich bringe einfach noch ein wenig von meiner Erfahrung mit ein. Nun habe ich meine erste Kollektion herausgebracht. Dabei sind alle epischen Momente, die ich all den Jahren erleben durfte, mit in das Design eingeflossen. Diese finden sich alle in einem Siebeneck, in Form eines Kopfsteinpflaster-Steines, wieder. Und über diese musste ich ja bei dem legendärsten Eintages-Klassiker Paris – Roubaix fliegen.“
Warum aber sieben Kopfsteinpflaster?
„Weil ich siebenmal bei einem Monument des Radsports gewinnen konnte.“
Haben Sie da wirklich am Design mitgewerkelt?
„Fragen Sie mal die Designer dort. Die verlassen wahrscheinlich den Raum, wenn sie sehen, dass ich wieder anrufe (lacht). Ich hatte wirklich überall meine Finger im Spiel.“
Haben Sie bitte ein Beispiel?
„Ich notiere einfach alles, was mir ein- und auffällt. Wenn ich eine Runde auf dem Rad drehe und merke, dass die neue Radhose vielleicht unten am Bund einen Millimeter Umfang weniger vertragen könnte, dann mache ich sofort ein Bild und schicke es den Kollegen nach Feldkirchen. Weil, so ein wenig Erfahrung habe ich ja mit Radfahren.“
Sie haben während Ihrer Karriere hunderttausende von Kilometern absolviert.
„Ich bin wirklich ganz schön rumgekommen, habe viele Länder und Kulturen gesehen und erlebt. Diese kosmopolitische Sichtweise versuche ich nun in den Style und in die Funktion zu integrieren.“
Was heißt das konkret?
„Wir haben während unserer Profi-Zeit oft über unsere Trikots gelästert und gesagt: ein Lumpen bleibt ein Lumpen. Bei Gore ist es das Gegenteil: die Qualität ist schon herausragend. Nun geht es nur noch um Nuancen. Sitzt die Naht an der Schulter beim Trikot nicht vielleicht ein zwei Millimeter zu niedrig? Passt der Bund bei der Hose auch nach ein paar tausend Kilometern? Haben wir den richtigen Stoff für das richtige Kollektionsteil ausgesucht? Diese Fragen gilt es zu beantworten. Unser Anspruch ist klar: Wir wollen die beste Rad-Bekleidung auf der Welt herstellen.“
Welchen Berg mögen Sie bei der Tour de France gar nicht?
„Als ich nicht fit war, habe ich grundsätzlich jeden Berg gehasst (grinst). Wirklich jeden. Fahren Sie doch mal in einer Gruppe mit Weltklasse-Fahrern, die gerade mal 65 Kilo wiegen, einen Berg wie den Col du Tourmalet in den Pyrenäen oder den Galibier in den Alpen hoch. Ich sage Ihnen: Die sind nicht nur unfassbar steil, sondern auch unfassbar lang. Das tut nur weh. Man strampelt und strampelt und hat das Gefühl, dass man dort oben nie ankommen wird.“
Bjarne Riis hat mal gesagt, dass Sie einer der ganz wenigen Fahrer auf der Welt seien, die über einen unfassbar geschmeidigen Tritt verfügen.
„Seitdem mir mein Vater mit zwölf Jahren ein Chesini-Rad geschenkt hat, habe ich einfach ein Gefühl für das Pedalieren. Darüber hinaus war ich von jeher ein absoluter Schalt-Freak. Ich wusste immer ein paar Sekunden früher als meine Konkurrenten, wann ich hoch- oder runterschalten musste. Das sparte mir enorm viel Kraft bei den langen Etappen. Die Power, die ich mir dadurch sparte, setzte ich dann für die Attacken ein.“
Viele Hobby-Radfahrer achten akribisch auf ihre Ernährung. Sie jedoch…
„…habe meist 81, 82 Kilo gewogen. Mit diesem Gewicht habe ich einfach am meisten Druck aufs Pedal erzeugen können. Runterhungern war für mich nie eine Option.“
Um eine Chance auf einen Sieg bei der Tour de France zu haben, forderte Sie Aldo Sassi, der sportliche Leiter ihres damaligen Radteams Mapei auf, fünf Kilo abzunehmen.
„Wenn es mein Ziel gewesen wäre, die Tour de France zu gewinnen, hätte ich noch mehr leiden müssen, als ohnehin schon. Mit Lebensqualität hatte dies dann aber nichts mehr zu tun. Für mich war diese ständige Quälerei, dieses ständige Verzichten, dieses ständige Enthaltsam sein irgendwann zu viel. Nicht umsonst habe ich ja meinen Spitznamen Spartacus von Roberto Petito erhalten.“
Wie meinen Sie das?
„Lieber einen Tag in die Schlacht ziehen und gewinnen, als eine Schlacht über drei Wochen führen.“
So wie bei ihren zahlreichen Siegen wie bei Paris – Roubaix. Das Rennen wird auch Hölle des Nordens genannt, weil es kilometerlang über unwegsames Kopfsteinpflaster geht.
„Unwegsam ist nett beschrieben. Das ist wirklich die Hölle! Besonders 2013. Ich hatte den berühmten Eintages-Klassiker ja schon zwei Mal gewonnen: 2006 und 2010. In dem Rennen fühlte ich mich jedoch wie ein Hase. Alle in der Spitzengruppe jagten mich. Ich bin an dem Tag um mein Leben gefahren. Danach war ich jedoch so fix und fertig, dass ich nach der Zielankunft nicht mehr von alleine stehen konnte. Mehr noch: Die Organisatoren mussten mich auf dem Weg zur Siegerehrung sogar stützen. Alles was an Energie in meinem Körper steckte, war draußen. Rien ne va plus – nichts geht mehr.“
Und heute? Wollen Ihre Kinder mit Ihnen auch Radfahren?
„Klar! Mit meiner kleineren Tochter gehe ich oft Radfahren. Aber das läuft alles sehr entspannt und spielerisch ab. Das Wichtigste ist, dass sie Spaß daran hat.“
Wie viel Kilo haben Sie denn heute?
„90, 91, vielleicht auch 92. Es kann aber auch sein, dass es schon 93 sind. Mein Körpergewicht ist auf jeden Fall noch nicht richtig definiert. Dafür habe ich ja jetzt genügend Zeit (grinst).“
Was für Ziele haben Sie noch?
„Meinen Kleiderschrank will ich niemals wechseln müssen. Die Sachen, die mir heute passen, sollten mir auch noch in fünf oder zehn Jahren passen. Das ist doch ehrgeizig, oder?“