Das E-Bike ist eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen – und dennoch gehen immer wieder ausschließlich die negativen Schlagzeilen über die Ticker. Es wird Zeit, hier mal ein paar Dinge ins rechte Licht zu rücken. Ein Kommentar von Marcus Degen.
Das E-Bike hat nicht nur die Fahrradwelt völlig verändert, das E-Bike ist ein Phänomen, ein Role Model für ein Produkt, das ohne Subventionen, ohne staatliche Förderung, ohne millionenschwere Marketingkampagnen und ohne die verordnete Aufgabe, die Welt retten zu müssen, unglaublich erfolgreich ist – einfach, weil es ein verdammt gutes Produkt ist, das seinen Käufern verdammt gut gefällt.
Diese Erfolgsgeschichte bringt es mit sich, dass viel darüber gesprochen und geschrieben wird. Jüngstes Beispiel ist eine Studie der bekanntesten Unternehmensberatung des Landes. Roland Berger titelt in einer kürzlich veröffentlichten Studie „Die europäische Fahrradindustrie im Krisenmodus“. (Zum Download der Studie) Und so passiert, was passieren muss: Einmal mehr wird die Sau durchs Dorf getrieben, die da heißt „Die Fahrradindustrie steht am Abgrund!“ Dabei sollte es doch vielmehr im Fokus für Medien, Gesellschaft und Politik stehen, das E-Bike zum wesentlichen Bestandteil einer neue Mobilitätsform zu erklären.
Das E-Bike als perfektes Produkt für eine nicht perfekte Welt
Denn das E-Bike schafft seit Jahren genau das, was die Elektromobilität auf vier Rädern nicht schafft: Es ist absolut krisenfest und hat sich vom Start weg ohne finanzielle Förderung rasant entwickelt und dabei eine Dynamik entwickelt, die ein Produkt oder eine Technologie nur entfalten kann, wenn diese schlicht gut ist und ihre Zeit gekommen ist. Und ein weiterer Aspekt, der oft verkannt wird: Beim E-Bike liegt das Zentrum der Entwicklung in Europa, eigentlich sogar in Deutschland – nicht wie bei quasi allen modernen Technologien in den USA oder in China. Für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist das ein riesiger Erfolg und ebenso eine große Chance, auf der wir aufbauen müssen und die wir uns nicht kaputtreden (lassen) dürfen.
Klar beschreibt das Wort „Krise“ den allgemeinen Zustand der Wirtschaft in Deutschland derzeit ganz gut. Die letzte Gehaltserhöhung liegt möglicherweise Jahre zurück, die Lebenshaltungskosten sind gestiegen, doch die privaten Verbraucher stecken zum Glück auch mal ein mageres Jahr weg – im Vertrauen darauf, dass wieder bessere Zeiten kommen.
In der Fahrradbranche scheint das nicht so zu sein – zumindest kann man den Eindruck erhalten, wenn man manchen Meldungen und Analysen folgt. Angeblich jagt ein Krisenjahr das nächste, die Umsätze gehen zurück und in menschenleeren Läden stapeln sich E-Bikes und Fahrräder, die niemand haben will. Warum werden diese Schreckensszenarien konstruiert? Schaut man selbst mal in einem Radgeschäft vorbei, um sich beispielsweise ein Ersatzteil zu beschaffen, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Schlangestehen ist angesagt, das Personal hat alle Hände voll zu tun und was so bei einem „normalen“ E-Bike auf dem Preisschild steht, hätte man gerne irgendwann mal als Monatsnetto.
Krise? Welche Krise?
Was ist los in der Fahrradwelt? Um die derzeit so schlechte Stimmung zu verstehen, muss man sich knapp 15 Jahre in die Vergangenheit versetzen. 2010 setzte der Handel rund 200.000 Elektrobikes ab – überwiegend Alltags- und Tourenräder, die sich an ältere Nutzerinnen und Nutzer wandten. Eben erst hatte man auf den Fachmessen Mountainbikes mit Unterstützungsantrieb gesehen und sich darüber lustig gemacht – „echte“ Radfahrer, geschweige denn Sportler, wollten sich damit nicht die Finger schmutzig machen. An die vier Millionen Fahrräder und Elektroräder wurden in jenem Jahr insgesamt verkauft; Durchschnittspreis (inklusive der E-Bikes wohlgemerkt) 460 Euro – damit sowie mit Teilen und Zubehör machte die Branche in Deutschland 2010 einen Umsatz von rund 2,4 Milliarden Euro.
Nein, eine Goldgrube war ein mittleres Radgeschäft am Ende der Nuller Jahre nicht unbedingt – doch das sollte sich im kommenden Jahrzehnt ändern. Das Geschäft mit den Elektrorädern nahm Fahrt auf; E-MTBs wurden zum Selbstläufer und immer mehr Menschen entdeckten das E-Bike als praktisches und zeitgeistiges Verkehrsmittel für ihren Alltag. Und so kam es, dass sich der Umsatz der Branche innerhalb von zehn Jahren fast verdreifachte – auf rund 6,5 Milliarden Euro im Corona-Jahr 2020. Alle wollten E-Bikes haben, und Handel wie Industrie waren in Hochstimmung. Es wurde geordert und produziert, was das Zeug hielt; 2022 stieg der Umsatz gar auf knapp 7,5 Milliarden Euro.
Wie das – wurden jetzt drei Mal so viele Räder verkauft wie 2010? Keineswegs – nur kostete ein E-Bike 2022 im Schnitt 2.800 Euro, ein Fahrrad ohne Motor immer noch nur 470 Euro. Die Nachfrage nach Elektrorädern stieg in ungeahnte Höhen und sie wurden zum Umsatzbringer der Branche.
Warum also Krisenstimmung? Naja, irgendwie sind seit den Corona-Jahren alle in der Krise. Nur wenige Branchen können jedoch auf eine so rasante Entwicklung zurückblicken, wie der Fahrradhandel. Das verdeutlicht auch ein Blick auf den gesamten Einzelhandelsumsatz: Der stieg von 2010 bis 2022 „nur“ um knapp 50 Prozent nämlich von 427 auf 631 Milliarden Euro, der im Fahrradbusiness im gleichen Zeitraum um 330 Prozent.
Geht es der Fahrradbranche also gar nicht schlecht? Dass die Umsätze der Branche nun erstmals seit Jahrzehnten sinken, hat sicher auch mit überhitzten Preisen zu tun – und setzt dann, angesichts voller Lager, einer den Rotstift an, ist der Aufschrei groß oder es folgt eben sofort das Gerede von der großen Krise – einen anderen Grund für reduzierte Preise kann es ja nicht geben.
Die Fahrradbranche wird sich selbst heilen, aber die Politik ist gefordert!
Dabei kann es angesichts ständiger Innovationen und regelmäßiger Modellwechsel ohnehin keine gute Strategie sein, am Warenbestand festzuhalten – zumal dem Handel zunehmend Konkurrenz von anderen Seiten erwächst. Zum einen sind es die Hersteller selbst, die teilweise den Direktvertrieb in die Hand nehmen; zum anderen strecken mehr und mehr branchenfremde Konzerne ihre Fühler in Richtung E-Bike aus. Dass Global Player wie Porsche oder ganz aktuell DJI auf den rollenden Zug aufspringen, zeugt eher vom Glauben an das Potenzial, das hier schlummert, als von irgendwelcher Schwarzmalerei.
Branchenkenner gehen davon aus, dass die Krise der Fahrradbranche in den kommenden zwei Jahren überwunden sein wird. Schon 2025 sollten die Umsätze wieder das Niveau des „Corona-Jahres“ erreichen und im Folgenden sogar weiterwachsen.
Vielleicht sollten alle Akteure rund um die Fahrradbranche in Sachen Krisenstimmung also einen Gang zurückschalten. Gesellschaftlich sind alle Weichen ohnehin gestellt, damit das Thema weiterhin zukunftsfähig ist. Wünschenswert wäre, dass sich endlich auch die Politik nachhaltig an dieser Weichenstellung beteiligt. Infrastruktur heißt das Zauberwort! Für viele potenzielle Käufer ist „Angst im Straßenverkehr“ immer noch der erste Grund, sich kein E-Bike anzuschaffen oder damit nicht regelmäßig zur Arbeit zu fahren. Und Meldungen von der großen Krise der Fahrradbranche kommen vor allem bei den privaten Verbrauchern nicht gut an.