Kommentar: Es ist das große Thema der letzten Tage. Nach einem Zwischenfall bei Paris – Roubaix bei dem sich Movistar-Profi Francisco Ventoso angeblich an einer Bremsscheibe schwer verletzte, verbannt die UCI die erst Anfang des Jahres erlaubten neuen Bremsen wieder aus dem Peloton. Nun ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass der Dialog rund um das Thema Scheibenbremsen nicht zum Erliegen kommt, denn damit würde man dem Radsport einen Bärendienst erweisen.
Kommentar von Michael Faiß
Francisco Ventoso: Was ist wirklich passiert?
Den Stein ins Rollen brachte der Unfall und die heftige Verletzung von Francisco Ventoso. Am Dienstag Abend machte die Nachricht die Runde, dass sich Ventoso bei einem Kontakt mit einer Bremsscheibe eines anderen Rads eine tiefe Schnittwunde zugezogen hätte. Etwa 12 Stunden später veröffentlichte Movistar einen offenen Brief seines verletzten Profis, in dem dieser die UCI und die Fahrergewerkschaft CPA auffordert, den Einsatz von Scheibenbremsen zu untersagen, um die Sicherheit der Fahrer zu schützen. Zudem veröffentlicht der 33-jährige (drastische) Fotos von seiner Verletzung und macht erstmals genauere Angaben zum Unfallhergang.
So weit, so gut. Jedoch wirft dieser offene Brief, die Fotos und vor allem die Beschreibung des Unfallhergangs mehr Fragen auf, als sie beantworten. Die Situation, in der er sich verletzte, beschreibt Ventoso wie folgt:
„[…] in einem Pavé Sektor zerreißt ein Massensturz das Feld und zahlreiche andere Fahrer stürzen. Ich kann rechtzeitig bremsen, fahre jedoch auf einen anderen Profi vor mir auf, der ebenfalls versuchte, den gestürzten Fahrern vor ihm auszuweichen. Ich bin nicht gestürzt, nur mein Knie hat den hinteren Teil seines Rads berührt. Ich fahre weiter, schaue jedoch wenig später nach unten zu meinem Bein: Es tut nicht weh, aber es ist voller Blut und ich kann die Knochenhaut sehen, die mein Schienbein bedeckt.“
Diese Beschreibung ist an und für sich durchaus plausibel. Betrachtet man jedoch die Bilder von Ventosos Verletzung, kommen einige Fragen auf – leider kann ich euch die Fotos nicht ersparen, da sie eine wichtige Rolle spielen. Nicht’s für schwache Mägen:
Wie man hier recht deutlich erkennen kann, klafft die Wunde auf der Außenseite des linken Schienbeins. Folgt man nun wiederum Ventosos Angaben zum Unfallhergang, muss man sich unweigerlich fragen, wie das linke Bein des Movistar-Profis in Kontakt mit der Bremsscheibe seines Vordermannes gekommen sein soll. Das Bremssystem befindet sich nämlich ebenfalls auf der linken Seite des Laufrads.
Klar, jeder, der bereits einmal schwerer gestürzt ist oder sich auf dem Rad verletzt hat, weiß, dass man sich an den Unfallhergang oft nur düster erinnert und Details schnell durcheinandergehen. Doch Ventoso gibt explizit an, nicht gestürzt zu sein – daran muss er sich also wohl noch erinnern. Da es an der Echtheit der Fotos nichts zu rütteln gibt, muss etwas an der Story von Ventoso nicht stimmen.
Der Movistar-Profi erzählt in seinem Brief außerdem davon, dass Etixx – Quick-Step Profi Nikolas Maes ebenfalls von einer Scheibenbremse verletzt wurde. Maes selbst wollte dies jedoch nicht bestätigen, wie sein Rennstall am gestrigen Abend verlauten ließ: „Nikolas kann das weder bestätigen noch widerlegen. Er weiß nicht, wie er sich verletzt hat, weil er nach dem Sturz voll darauf fokussiert war, das Rennen weiterzufahren. Als er dann zusammen mit Ventoso im Krankenwagen saß, dachte er, dass eine Bremsscheibe die Ursache sein könnte – er kann dies jedoch nicht bestätigen. Ebenso kann ein anderer Teil des Rads oder auch die Pflastersteine Grund für die Verletzung gewesen sein.“
Versteht mich nicht falsch: Ich möchte Francisco Ventoso an dieser Stelle keinesfalls der Lüge beschuldigen. Ich weiß selbst sehr gut, wie man sich nach einem solchen Sturz und einer solchen Verletzung fühlt und man krampfhaft versucht, sich an den Unfallhergang zu erinnern. Details verschwimmen und auch die Emotionen spielen eine Rolle. Ebenso möchte ich hier keinesfalls ausschließen, dass die Ursache der Verletzung wirklich eine Bremsscheibe war. Es geht mir vielmehr darum, was folgte und vor allem um die Reaktion der UCI.
Die Reaktion der UCI: Ignoranz oder blinder Aktionismus?
Die Meldungen über die Verletzung von Ventoso und vor allem der offene Brief schlugen hohe Wellen in der Radsportwelt. Es war selbstverständlich Wasser auf die Mühlen von zahlreichen anderen Fahrern, die vor eben einem solchen Szenario gewarnt hatten. Auch die Fahrergewerkschaft CPA fühlte sich bestätigt und forderte die UCI vehement auf, zu handeln. Innerhalb von nur 48 Stunden gab man beim Weltverband schließlich dem Druck nach und verbannte Scheibenbremsen bis auf weiteres wieder aus dem Profiradsport. Wohl gemerkt: Es gibt keine offiziellen Bestätigungen, dass die Wunde wirklich von einer Bremsscheibe stammt und die Erläuterungen von Ventoso sind durchaus zweifelhaft. Es wäre jedoch die Aufgabe eines Weltverbands, sich seriös und professionell damit zu befassen und nicht in Aktionismus zu verfallen.
Auch wenn die UCI für diesen Schritt nun von vielen Seiten Applaus erhält, ist das Verhalten eines Weltverbandes unwürdig. Denn entweder hat man die Warnungen von Profis und Teams im Vorfeld tatsächlich nicht ernst genommen, ignoriert und – viel schlimmer noch – sich auch selbst nicht mit den möglichen Problemen, die mit der Einführung von Scheibenbremsen verbunden sind, auseinandergesetzt. Oder aber man wirft die eigene Überzeugung unter dem Druck von außen und in einer Atmosphäre der Hysterie in blindem Aktionismus über Bord. Beide Möglichkeiten sind ein Armutszeugnis für einen Verband mit der Macht und Verantwortung wie der UCI.
Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass man bei der UCI die Chance sah, durch diesen Schritt etwas Ruhe in das angespannte Verhältnis zwischen dem Verband und den Profis zu bringen. Schließlich lässt man eine entsprechende Reaktion in der Causa Begleitfahrzeuge nun schon mehrere Monate vermissen – trotz des Drucks von außen.
Weshalb Scheibenbremsen im Profiradsport eine weitere Chance verdient haben
Für’s Erste dürften die Tage von Scheibenbremsen im Pro-Peloton damit gezählt sein. Wichtig wäre es nun, dass sich Verband, Industrie, Vertreter der Teams und Profis an einen Tisch setzen und darüber sprechen, wie es weitergeht. Denn Scheibenbremsen können – richtig eingesetzt – viel mehr zur Sicherheit der Fahrer beitragen, als dass sie eine Gefahr für die Gesundheit darstellen. Ob man nun das oben angesprochene Verletzungsrisiko durch die Bremsscheiben neu evaluiert oder aber man Schutzabdeckungen beispielsweise aus Carbon entwickelt, sei dahingestellt, jedoch wäre es von großer Bedeutung, dass man weiter über das Thema spricht.
In der Vergangenheit krankte es nämlich primär daran, dass ein wirklicher Dialog rund um das Thema Scheibenbremsen nicht zu Stande kam. Fahrer und Teams fühlten sich vom Verband (verständlicherweise) bevormundet und unter Druck gesetzt. Der darauf folgende, zeitweise vergiftete, Dialog machte nämlich vor allem eines deutlich: Man muss den Fahrern mehr Zeit geben, um sich mit der neuen Technologie zu beschäftigen und deren Vorzüge kennenzulernen. Denn eines der immer wieder aus dem Peloton vorgebrachten Argumente gegen die Einführung von Scheibenbremsen hält sich hartnäckig: Die Kraft von Felgenbremsen würde ausreichen, Reifen können eben nicht mehr als blockieren. Genau dies veranschaulicht, dass viele Kritiker der neuen Bremsen selbst noch keine Erfahrung damit gesammelt haben, denn um die maximale Bremskraft geht es beim Vergleich Felgenbremse vs. Scheibenbremse wenn überhaupt nur an untergeordneter Position.
Viel entscheidender sind zwei Vorteile, die Scheibenbremsen im Vergleich zu herkömmlichen Rennradbremsen genießen, nämlich eine deutlich bessere Dosierung und nahezu gleichbleibendes Bremsverhalten ungeachtet der äußeren Einflüsse. Während der Spielraum zwischen dem Einsetzen der Bremswirkung und dem Blockieren des Reifens bei Felgenbremsen sehr klein ist, lassen Scheibenbremsen hier eine wesentlich und auch für jeden Hobbyfahrer spürbar bessere Modulation zu. Wie viele Stürze werden durch Verbremsen ausgelöst? Wie viele schwere Verletzungen gab es schon, weil auf einer Abfahrt versehentlich das Hinterrad blockierte? Hier könnten Scheibenbremsen einen großen Teil zu mehr Sicherheit beitragen. Vorausgesetzt, man gibt den Fahrern und den Teams genügend Zeit, sich damit auseinanderzusetzen und man sucht gemeinsam mit der Industrie nach Lösungen, um die Gefahr durch Bremsscheiben zu minimieren. Die britischen Kollegen von GCN hatten sich im letzten Jahr bereits einmal mit der Thematik per Video beschäftigt und unter anderem auch getestet, wie gefährlich eine Bremsscheibe verglichen mit Aerospeichen ist – wer des Englischen mächtig ist, sollte sich das unterhaltsame Video jedenfalls einmal ansehen:
Ich möchte hier an dieser Stelle auch kein flammendes Plädoyer darüber halten, dass Scheibenbremsen die Rettung und Felgenbremsen ein Sicherheitsrisiko sind. Moderne Rennradbremsen funktionieren sehr gut und haben sich inzwischen in vielerlei Hinsicht bewährt. Es wäre jedoch schade und fast tragisch, wenn man den Dialog nun auf Grund dieses Zwischenfalls einstellen würde. Richtig eingesetzt können Scheibenbremsen nämlich erheblich zur Sicherheit der Fahrer beitragen – doch um zu dieses Ziel zu erreichen, müssen sich alle beteiligten Parteien an einen Tisch setzen und wie erwachsene Menschen darüber sprechen. Darauf hoffe ich.