Radsport: Was war das für ein spannender Giro d’Italia? Drei Wochen lang wussten wir nicht, wer in Mailand auf dem Podium landen wird. Vier Fahrer hatten bis zum abschließenden Zeitfahren die Chance, die 100. Austragung des Giro d’Italia zu gewinnen. Am Ende jubelte Tom Dumoulin (Sunweb) vor Nairo Quintana (Movistar) und Vincenzo Nibali (Bahrain-Merida). Doch wir nehmen weit mehr Erkenntnisse aus dem Giro d’Italia 2017 mit: 10 Dinge, die wir bei der Italien-Rundfahrt gelernt haben!
1. Wir haben wieder zwei starke deutsche Radsportteams
Es ist lange her, dass wir mit den Teams Telekom und Gerolsteiner zwei deutsche Top-Teams im Peloton hatten. An diese Zeiten wollen viele Fans aus verständlichen Gründen nicht mehr zurückdenken. Das ist auch gar nicht mehr nötig, denn spätestens seit diesem Jahr gibt es in Deutschland wieder zwei Weltklasse-Mannschaften. Während die Italiener nämlich gar kein WorldTour-Team mehr stellen und die Spanier mit Movistar nur noch ein einziges, können die deutschen Radsportfans mit Sunweb und Bora-hansgrohe gleich zwei Teams die Daumen drücken – und diese liefern ordentlich ab! Beim Giro d’Italia 2017 sorgte Bora-hansgrohe mit dem Sieg von Lukas Pöstlberger auf der 1. Etappe für einen Auftakt nach Maß. Teamkollege Cesare Benedetti durfte sich zeitgleich das Bergtrikot überstreifen. Das Team Sunweb stand dem Erfolg in nichts nach. Im Gegenteil: Tom Dumoulin gewann die 10. Etappe und die 14. Etappe und schließlich sogar den Giro d’Italia.
2. Fernando Gaviria ist der neue Top-Sprinter
Erik Zabel, Mario Cipollini, Alessandro Petacchi & Mark Cavendish: Diese Namen sind allen Radsportfans ein Begriff. Allesamt Sprinter und alle haben eine kleine Ära in den Massensprints geprägt. Nun könnte ein neuer Dominator im Peloton sein Unwesen treiben: Fernando Gaviria (Quick-Step Floors)! Der Kolumbianer ist mit seinen erst 22 Jahren bereits auf einem Niveau angekommen, welches viele Sprintasse vor ihm erst viele Jahre später erreichen konnten. Natürlich ist es deutlich zu früh, Gaviria schon jetzt mit den besten Sprintern der Welt in einem Satz zu erwähnen, doch in einigen Saisons werden die Experten nicht drum herum kommen. Denn Fernando Gaviria wird die Massensprints in den kommenden Jahren prägen. Der Gewinn der Sprintwertung beim Giro d’Italia 2017 wird nur der Anfang gewesen sein. Verdient hat er sich die Maglia Ciclamino mit seinen Erfolgen auf vier Teilstücken: Gaviria gewann die Etappen drei, fünf, zwölf und 13.
3. Tom Dumoulin hat beim Giro d’Italia 2017 seine Umwandlung abgeschlossen
Es kommt nicht oft vor, dass sich Fahrer einer vollständigen Umwandlung vollziehen. Eine Weiterentwicklung streben natürlich alle Profis an, doch eine so gravierende Veränderung wie bei Tom Dumoulin gibt es selten zu bestaunen. Der Niederländer galt zwar stets als sehr talentiert, doch an einen Klassementfahrer dachten vor Jahren die wenigsten Experten. Dumoulin präsentierte sich als bestenfalls durchschnittlicher Bergfahrer. Vielmehr war er ein Rolleur, eventuell mit der Möglichkeit zu einem starken Allrounder zu werden. Aber ein Bergfahrer? Umso überraschender war es, als Tom Dumoulin vor einigen Monaten verkündete, er wolle nun auf Gesamtwertung fahren. Mit einher geht bei solchen Umwandlungen meist auch die Zerstörung der bisherigen Stärken. Tony Martin (Katusha-Alpecin) beispielsweise wollte sich mehr auf Klassiker spezialisieren und sah prompt in den Zeitfahren kein Land mehr gegen Dumoulin. Doch Dumoulin selbst ist die Balance perfekt gelungen. Im Zeitfahren legte er den Grundstein für den Sieg beim Giro d’Italia und mit seiner neu gewonnenen Stärke in den Bergen ließ er sogar einen Nairo Quintana verzweifeln. Der Vergleich mit Miguel Indurain liegt auf der Hand. Wir freuen uns auf Tom Dumoulin vielleicht schon bald bei der Tour de France gegen Chris Froome (Sky).
4. Italien & Spanien haben ein Problem
Es ist keine neue Erkenntnis, dass der Radsport in Spanien und Italien ein Problem hat. Beim Giro d’Italia 2017 konnten wir diese Tatsache leider erneut feststellen. Zwar haben es in diesem Jahr drei Italiener in die Top 10 geschafft, doch nur Davide Formolo (Cannondale-Drapac) steht mit seinen 24 Jahren noch vor einer rosigen Zukunft. Die Tifosi mussten bis zur 16. Etappe warten, bis Vincenzo Nibali endlich den ersten Sieg für die Italiener einfahren konnte. Ein italienisches Radsportteam gibt es in der höchsten Klasse seit dieser Saison auch nicht mehr. Dort dürfen sich die Spanier wenigstens über ein Team freuen, doch beim Giro d’Italia fuhr keiner ihrer Piloten in die Top 10. Der beste war auf Rang 17 Mikel Landa (Sky), der zudem die Bergwertung und die 19. Etappe gewinnen konnte. Mit seinen 27 Jahren gehört er fast schon zu den hoffnungsvollsten Talenten des Landes. Denn nach Alejandro Valverde (Movistar) und Alberto Contador (Trek-Segafredo) scheint kaum etwas nachzukommen. Noch vor einigen Jahren haben die Italiener und Spanier die großen Landesrundfahrten mitbestimmt, viele Etappensiege eingefahren und zahlreiche Talente hervorgebracht. Wenn hier nicht bald ein Wandel vollzogen wird, sehen wir in den Ergebnislisten ihre Flaggen bald nicht mehr ganz vorn.
5. Die Jugend ist stark im Kommen
Richtig: Eigentlich ist die Jugend ständig im Kommen. Doch in diesem Jahr scheinen uns die Jungen Wilden besonders aufgefallen zu sein. Das verwundert nicht, denn schließlich war der Kampf um das Weiße Trikot nicht nur bis zum letzten Tag spannend, sondern fand auch direkt in den Top 10 der Gesamtwertung statt. Letztendlich sicherte sich der Luxemburger Bob Jungels (Quick-Step Floors) die Nachwuchswertung vor dem Briten Adam Yates (Orica-Scott), dem Italiener Davide Formolo (Cannondale-Drapac) und dem Slowenen Jan Polanc (UAE). Gleichzeitig belegten diese vier Fahrer die Ränge acht bis elf in der Gesamtwertung. Ganz nebenbei gewann Jungels die 15. Etappe und Polanc die 4. Etappe. Nicht weniger als vier Erfolge steuerte Fernando Gaviria herbei, der mit seinen 22 Jahren natürlich auch zu den jüngsten Fahrern im Peloton zählt. Caleb Ewan gewann Teilstück Nummer sieben und Lukas Pöstlberger gleich den Auftakt. Fast hätte auch Luka Pibernik (Bahrain-Merida) eine Etappe gewonnen. Tatsächlich wurden also erstaunlich viele Siege von den U25-Piloten beim diesjährigen Giro d’Italia eingefahren.
6. Viele Zeitfahr-Kilometer müssen nicht langweilig sein
Viele Fans und Experten haben leicht mit den Augen gerollt, als die Strecke für den Giro d’Italia 2017 präsentiert wurde. Überraschend viele Zeitfahr-Kilometer wurden dabei enthüllt. In Italien gibt es seit Jahren traditionell eher weniger Zeitfahr-Kilometer als bei der Tour de France. Dieses Jahr war aber alles anders. Wer dadurch eine langweiligere Italien-Rundfahrt erwartet hat, der täuschte sich gewaltig. Zwar platzierten sich 9 von 13 in unserer Giro-Vorschau prognostizierten Fahrer tatsächlich wie erwartet in den Top 9, doch diese lagen innerhalb von etwas mehr als acht Minuten. Die ersten fünf kamen sogar in einer Zeitspanne von weniger als zwei Minuten in Mailand an. Nach dem Sieg von Nairo Quintana am Blockhaus schien der Giro d’Italia 2017 für viele bereits entschieden zu sein. Doch am Tag danach gab es die Abrechnung und Tom Dumoulin nahm dem Kolumbianer rund drei Minuten ab. Von dort an war klar, dass dieser Giro d’Italia kein langweiliger werden wird und die Zeitfahr-Kilometer für die nötige Spannung gesorgt haben. Außerdem: So freudestrahlend wie Jos Van Emden (LottoNL-Jumbo) in Mailand haben wir lange keinen Fahrer mehr jubeln sehen.
7. Teams der Klassementfahrer müssen stets aufmerksam sein
Wir erleben immer wieder, dass ein Klassementfahrer eine Rundfahrt schon vor Beginn der Berge verliert. Oft sind es Unachtsamkeiten der gesamten Mannschaft oder Fehlentscheidungen, die zu unangenehmen Situationen führen. Auch beim Giro d’Italia 2017 gab es Momente, in denen die Mannschaft besonders wichtig war. Auf der 3. Etappe kam es zu einer Windkante. Diese wurde vom Team Quick-Step Floors initiiert und erfolgreich abgeschlossen. Dadurch gewann Fernando Gaviria nicht nur sein erstes Rennen bei einer Grand Tour, sondern auch Bob Jungels konnte einige Sekunden auf seine Konkurrenten herausfahren. Auf den letzten Etappen versuchten die Teams Bahrain-Merida und Movistar ständig, Tom Dumoulin in Schwierigkeiten zu bringen. Tempoverschärfungen in den Aufstiegen und Windkanten in den Abfahrten brachten den Niederländer in große Probleme. Schließlich konnte sein Team ihm dabei helfen, die Maglia Rosa nicht aus den Augen zu verlieren. Einen großen Anteil daran hat auch Simon Geschke. Der Berliner war mit Laurens Ten Dam wohl der wichtigste Mann an der Seite Dumoulins.
8. Die Pechsträhne von Steven Kruijswijk ist noch nicht vorbei
Einen Niederländer in Rosa hatten wir beim Giro d’Italia auch 2016 schon. Steven Kruijswijk dominierte die Italien-Rundfahrt im Vorjahr in den Bergen – bis zur letzten Woche. Dort kam er in einer Abfahrt zu Fall und klatschte gegen eine Wand aus Eis und Schnee. Er fuhr weiter, aber hat den Giro d’Italia in diesem Moment trotzdem verloren. Seine Pechsträhne ging dann bei der Vuelta a Espana Ende 2016 weiter, als er in einen nicht gesicherten Straßenpfosten raste und die Rundfahrt verletzt aufgeben musste. Viele Fans haben ihm daher beim Giro d’Italia in diesem Jahr die Daumen gedrückt. Er war nicht so stark wie in der vorherigen Saison, doch konnte sich recht schnell in die ersten zehn hineinfahren. In den Top 10 liegend konnte Steven Kruijswijk jedoch nicht mehr zur vorletzten Etappe des Giro d’Italia 2017 antreten. Magenprobleme! Erneut darf der talentierte Niederländer nicht die Früchte seiner Arbeit ernten. Wir drücken ihm auch 2018 wieder die Daumen!
9. Eine Rundfahrt ohne Sky-Kontrolle ist spannender
Das britische Team Sky war mit einer Doppelspitze zum Giro d’Italia angetreten. Am Ende musst Geraint Thomas das Rennen aufgeben und Mikel Landa fuhr auf Rang 17 in der Gesamtwertung. Immerhin konnte der Spanier eine Etappe gewinnen und sich die Wertung des besten Bergfahrers sichern. Für das so ambitionierte Team Sky ist dieses Resultat jedoch alles andere als zufriedenstellend. Schuld sind in diesem Fall aber nicht die Fahrer selbst, sondern tatsächlich die Polizei. Auf der 9. Etappe kamen die beiden Klassementfahrer von Sky nämlich durch ein am Streckenrand stehendes Polizei-Motorrad zu Fall. Thomas und Landa verloren viel Zeit und die Hoffnungen waren dahin. Tragisch für die Betroffenen, doch der Spannung hat es nicht geschadet. Während bei der Tour de France und der Vuelta a Espana häufig gähnend langweilige Rennen zustande kommen, war der Giro d’Italia 2017 viel offener. Dies mag an den engen Zeitabständen liegen, doch ein Mitgrund dafür könnte auch die fehlende Kontrolle durch den Sky-Zug sein. Durch diesen werden bei der Tour de France mögliche Überraschungen oder taktische Coups meist ausgeschlossen. Für die Fans ist eine Rundfahrt ohne ein überlegenes Team spannender.
https://www.youtube.com/watch?v=_9LYtmhOEEU
10. Zu früh jubeln lohnt sich auch beim Giro d’Italia nicht
Auf der 5. Etappe des Giro d’Italia haben sich gleich zwei Fahrer gefreut – einer davon jedoch deutlich zu früh. Fernando Gaviria gewann das Teilstück von Pedara nach Messina im Massensprint. Eine Runde vor Schluss jubelte bereits Luka Pibernik (Bahrain-Merida), im Glauben, ihm wäre ein Kunststück wie Lukas Pöstlberger gelungen. Doch weit gefehlt, denn es war noch eine weitere Runde zu absolvieren. Luka Pibernik wurde am Ende 148. und wollte sich einfach nur im Peloton verstecken. Doch da die Kameras alles aufgezeichnet haben, wird sein Name auf ewig mit dieser Etappe verbunden bleiben. Hat der nicht mal eine Etappe beim Giro d’Italia gewonnen? Nein, hat er nicht!
https://www.youtube.com/watch?v=aaduR0Aq-3k