Radsport: Wer gewinnt die 105. Ausgabe der Frankreich-Rundfahrt? Es scheint fast so, als wäre die Anzahl der Tour de France Favoriten noch nie so groß gewesen. Der Hauptgrund: Viele von ihnen haben bereits den Giro d’Italia in den Beinen. Ein Durchmarsch eines Fahrers scheint ausgeschlossen. Das ist gut für die Fans und für den Radsport insgesamt. Wir haben aus dem breiten Pool der Gelb-Anwärter unsere sechs Top-Favoriten herausgefischt. Dabei gehen wir davon aus, dass Titelverteidiger Chris Froome (Sky) am 7. Juli am Start stehen wird.
Chris Froome: Gelingt dem ungeliebten Briten das Unmögliche?
Die drei letzten Grand Tour-Siege gingen allesamt an Chris Froome (Sky). Von den letzten fünf Ausgaben der Tour de France gewann er vier. Der Brite gilt als der beste Klassementfahrer seiner Generation. Doch Erfolg macht unbeliebt, vor allem in Frankreich. Bei Chris Froome scheint die fehlende Sympathie aber nicht nur an seiner Unschlagbarkeit zu liegen. Viele Fans mögen ihn nicht, weil er wenig ästhetisch auf dem Rad sitzt, weil er stets starr auf seinen Radcomputer blickt und nur nach vorgegebenen Wattzahlen fährt. Ende des vergangenen Jahres hat er dann seine letzten Sympathien im Radsport verspielt: Chris Froome gab bei einer Dopingkontrolle der Vuelta a Espana einen Test mit einem auffälligen Salbutamol-Wert ab. Doch er fährt weiter, er siegt weiter und er macht sich weiterhin unbeliebt. Nennt man die Tour de France Favoriten, kommen wir an ihm nicht vorbei – ob wir wollen oder nicht. Erst am Mittwoch werden wir endgültig wissen, ob Chris Froome trotz des Startverbots der ASO die Tour de France in Angriff nehmen darf. Da er jedoch heute von der UCI freigesprochen wurde, dürfte ein Ausschluss ohnehin vom Tisch sein.
Team: Sky gilt als die wohl stärkste Truppe im Fahrerfeld.
Erfahrung: Top, denn wer mit vier Gesamtsiegen bei der Tour de France anreist, hat schon einiges erlebt.
Form/Fitness: Fraglich, da er den Giro d’Italia in den Beinen hat.
Konstanz: Immer wenn Chris Froome in Form sein musste, hat er sich und seine Mannschaft nicht enttäuscht.
Berg: Je länger der Berg, desto besser ist er. Kurze, giftige Anstiege liegen ihm allerdings weniger.
Zeitfahren: Im Kampf gegen die Uhr muss er sich nur wenigen beugen – zum Beispiel Tom Dumoulin.
Wind/Pavé: Froome galt lange Zeit als Bruchpilot, doch ihn erwischt man nie auf dem falschen Fuß.
- Prognose:
Auch wenn alle seine Statistiken für ihn sprechen: Das Giro/Tour-Double scheint in der heutigen Zeit unmöglich zu sein. Die Tour de France 2018 ist extrem hart. Wir glauben nicht an eine Titelverteidigung.
Mikel Landa: Vom Teamkollegen zum größten Gegner?
Mit seinen 28 Jahren befindet sich Mikel Landa im besten Radsport-Alter. Da er in den vergangenen Jahren beim Team Sky nicht über die Helferrolle für Chris Froome hinauskam, wechselte er seine Trikotfarben. Nun steht der Spanier für die spanische Equipe Movistar am Start. Ein interessanter Wechsel, denn damit hat er sich den größten Konkurrenten von Chris Froome angeschlossen. Doppelspitze war gestern. An der Seite von Nairo Quintana und Alejandro Valverde bildet Mikel Landa eine gefährliche Dreierspitze – und alle drei zählen zu den Tour de France Favoriten. 2017 fehlten ihm am Ende nur 2:21 auf Kapitän Chris Froome. Als Helfer fuhr Mikel Landa auf Rang vier in der Gesamtwertung. Wie stark wird er erst sein, wenn er freie Fahrt und die Unterstützung einer bockstarken Movistar-Mannschaft spürt?
Team: In den Bergen ist Movistar nicht schwächer als Sky.
Erfahrung: Dritter beim Giro, Vierter bei der Tour. Die Erfahrungen als Leader halten sich jedoch in Grenzen.
Form/Fitness: Schwach, denn 2018 hat er bisher kaum etwas gezeigt. Das könnte jedoch auch für einen guten Formaufbau sprechen.
Konstanz: Bislang durfte Landa selten auf eigene Rechnung fahren. Seine Konstanz muss er jetzt nachweisen.
Berg: 2017 schien er bergauf stärker zu sein als Froome. Wenn er irgendwo Zeit gewinnt, dann im Hochgebirge.
Zeitfahren: Der Kampf gegen die Uhr ist seine große Schwäche, doch auch hier hat er zulegen können.
Wind/Pavé: Bei seinem starken Team darf ihm eigentlich kein Fehler unterlaufen.
- Prognose:
Mikel Landa hat das Potential, die Tour de France mehr als nur einmal zu gewinnen. Dafür muss sich der Spanier 2018 jedoch erst einmal gegen die teaminterne Konkurrenz durchsetzen. Steht er in Topform am Start, kann er seine frischen Beine nutzen und ist ein heißer Anwärter auf den Titel.
Nairo Quintana: Findet der Kolumbianer zur alten Stärke zurück?
Es gab Jahre, in denen konnte nur Nairo Quintana (Movistar) das Hinterrad von Chris Froome halten. Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Seit seinem Vuelta-Sieg 2016 ließen seine Leistungen stark nach. Zunächst wurde er 2017 beim Giro d’Italia von Tom Dumoulin geschlagen, dann hatte er bei der Tour de France keine Chance. Immerhin gewann er in dieser Saison bei der Tour de Suisse endlich mal wieder eine Etappe. Dies war ihm in der WorldTour über ein Jahr lang nicht gelungen. Ein Zeichen dafür, dass es bei ihm wieder bergauf geht? Wir hoffen es, denn Nairo Quintana ist nicht nur einer der besten Bergfahrer der Welt gewesen, sondern auch einer der sympathischsten Fahrer im Peloton. Vielleicht hat ihn die Nachricht beflügelt, dass Froome und Dumoulin mit dem Giro in den Beinen zur Tour kommen.
Team: Drei Kapitäne könnten viele taktische Varianten ermöglichen – oder teaminterne Probleme verursachen.
Erfahrung: Daran wird es wohl kaum mangeln. Er fährt seine fünfte Tour de France als Kapitän.
Form/Fitness: Auch wenn er bei der Tour de Suisse einen Achtungserfolg eingefahren hat, fährt er seiner Topform seit 1,5 Jahren hinterher.
Konstanz: Quintana hat in seiner Karriere neunmal eine Grand Tour beendet. Nur zweimal landete er nicht unter den Top vier.
Berg: Der Kolumbianer war über viele Jahre hinweg zusammen mit Froome der stärkste am Berg. Dieses Potential steckt immer noch in ihm.
Zeitfahren: In dieser Disziplin wird er auf fast alle seine Konkurrenten Zeit verlieren.
Wind/Pavé: Quintana ist nicht schwer und wird daher leicht vom Winde verweht. Doch sein Team muss stark genug sein, ihn zu schützen.
- Prognose:
Alles hängt davon ab, ob Nairo Quintana still und heimlich zu seiner alten Form zurückgefunden hat. Fährt er wie in den vergangenen 1,5 Jahren, wird er es nicht auf das Podium schaffen. Hat er sich perfekt vorbereitet, zählt er zweifelsohne zu den absoluten Tour de France Favoriten. Wir glauben eher an ein Zwischending: Podium möglich, aber für den Gesamtsieg reicht es nicht.
Richie Porte: Endlich drei gelungene Wochen?
Den gleichen Weg, den Mikel Landa nun eingeschlagen hat, ging Richie Porte (BMC) bereits zwei Jahre zuvor. Der Australier kehrte dem Team Sky den Rücken und wollte nun selbst der große Konkurrenz von Chris Froome werden. Gelungen ist ihm das bis dato nicht, was weniger an seinen allgemeinen Fähigkeiten liegt. Das große Problem von Richie Porte ist die fehlende Konstanz. Bei einwöchigen Rundfahrten gilt er als der stärkste Klassementfahrer im Peloton. Wenn jedoch drei Wochen zu fahren sind, erwischt er immer mindestens einen schwachen Tag. Nicht selten ist dies der Konzentration geschuldet, was auch Stürze wie im Jahr 2017 zufolge haben kann. Da er auf den Giro d’Italia verzichtet hat, muss er als einer der Tour de France Favoriten auf den Gesamtsieg angesehen werden. Welcher Tag versaut ihm dieses Mal das Vorhaben?
Team: BMC hat Vorteile im Teamzeitfahren und auf Kopfsteinpflaster. In den Bergen ist man unterlegen.
Erfahrung: Richie Porte hat sich zum Kapitän hochgearbeitet. Die Erfahrung muss er aber endlich umsetzen.
Form/Fitness: Die Form von Richie Porte stimmt nahezu immer. Kürzlich gewann er die Tour de Suisse.
Konstanz: Über eine Saison gesehen ist der Australier enorm Konstanz – über drei Wochen leider nicht.
Berg: Ob kurz und steil oder lang und rhythmisch: Richie Porte hat vor keinem Berg Angst. Der Berg ruft und er fährt ihn hinauf – und zwar schnell.
Zeitfahren: In Topform kann er mit Chris Froome locker mithalten. Zusammen mit dem Teamzeitfahren wird es schwer, ihm Zeit abzunehmen.
Wind/Pavé: Seine Mannschaft ist auf diesem Terrain sehr stark. Davon wird auch er profitieren.
- Prognose:
Wenn nicht jetzt, wann dann? Mit Chris Froome und Tom Dumoulin haben seine beiden größten Konkurrenten den Giro d’Italia in den Beinen. Alle anderen steckt er im Zeitfahren und Teamzeitfahren locker in die Tasche. Eigentlich muss er in den Bergen nur mitfahren und hoffen, dass Froome und Dumoulin irgendwann die Puste ausgeht. Hält Richie Porte endlich drei Wochen komplett durch, ist er von allen Tour de France Favoriten 2018 wohl der sicherste Tipp.
Tom Dumoulin: Glückt dem Niederländer die Revanche für den Giro?
Vielleicht war es ein Fehler, dass sich Tom Dumoulin (Sunweb) zu Beginn des Jahres dazu entschieden hat, den Giro d’Italia zu fahren. Hätte er auf die Italien-Rundfahrt verzichtet und ausgeruht in die Tour de France gegangen, wäre er für viele Experten wohl der Top-Favorit gewesen. Nun jedoch hat auch er – wie Chris Froome – drei harte Wochen in den Beinen. Anders als der Brite ist sich der Niederländer eine solch harte Belastung jedoch nicht gewohnt. Zum ersten Mal wirklich auf Gesamtwertung fuhr er 2017. Damals gewann er sofort den Giro. Jetzt wird er binnen drei Monaten zwei dreiwöchige Landesrundfahrten absolvieren. Mutige Entscheidung, doch war sie am Ende richtig?
Team: Sunweb kann im Teamzeitfahren mithalten und auf dem Pavé Vorteile ausspielen. In den Bergen hat Dumoulin jedoch kein Top-Team an seiner Seite.
Erfahrung: Dumoulin hat schon alles gesehen. Als Kapitän zur Tour de France ist er aber noch nie gefahren.
Form/Fitness: Kaum vorstellbar, dass er nach dem Giro d’Italia nun auch die Tour de France in Topform beenden kann.
Konstanz: Der Niederländer gilt noch nicht lange als Klassementfahrer. Doch wenn er wollte, hat er meist abgeliefert.
Berg: Gleichmäßige Anstiege liegen ihm sehr. Je kürzer und steiler sie sind, desto mehr Probleme wird er bekommen.
Zeitfahren: Er ist Weltmeister. In Normalform wird er alle Kontrahenten hinter sich lassen.
Wind/Pavé: Schwer einzuschätzen, doch seinem Körperbau nach wird er mit seinem starken Team eher zu den Gewinnern auf Etappe #9 zählen.
- Prognose:
Die Vergangenheit hat uns gelehrt, dass das Giro/Tour-Double selbst von den besten Fahrern nicht zu meistern ist. Bestes Beispiel: Alberto Contador. Die Frankreich-Rundfahrt 2018 ist einfach zu hart und abwechslungsreich, als dass Tom Dumoulin nach einem so extremen Giro d’Italia erneut um den Gesamtsieg mitkämpfen kann. Wir rechnen daher eher mit einem Einbruch, als mit einem Platz auf dem Podium.
Romain Bardet: Ist 2018 seine Chance so groß wie noch nie?
Seit über 30 Jahren warten die Franzosen darauf, dass endlich einer ihrer Männer die Grand Boucle gewinnt. 1985 gewann Bernard Hinault. Jahr für Jahr wird Ende Juni in Frankreich darüber gesprochen, welcher Landsmann es dieses Mal schaffen könnte. Ganz hoch im Kurs steht 2018 Romain Bardet (AG2R La Mondiale). Kein Wunder, denn der 27-Jährige landete bei den beiden vergangenen Austragungen auf dem Podium. Nun soll es endlich mit dem Gesamtsieg klappen – und die Chancen stehen so gut wie noch nie. Romain Bardet fuhrin dieser Saison nur wenige Rennen, um mit ganzer Frische zur Tour de France zu kommen. Beim Critérium du Dauphiné fuhr er auf Rang drei, was ein gutes Zeichen für einen funktionierenden Formaufbau sein dürfte.
Team: Mit Pierre Latour hat Romain Bardet einen richtigen Edelhelfer. Insgesamt ist die Mannschaft aber klar schwächer als Sky oder Movistar.
Erfahrung: Romain Bardet bestreitet seine sechste Tour de France als Kapitän.
Form/Fitness: Der Franzose scheint sich viel geschont zu haben und die Anzeichen verdichten sich, dass der Formaufbau glückt.
Konstanz: In den vergangenen vier Jahren fuhr Bardet bei der Tour stets unter die Top 10.
Berg: Geht es bergauf, hat Bardet kaum Schwächen. Er mag es lang und rhythmisch ebenso wie kurz und giftig.
Zeitfahren: Leider wird er im Teamzeitfahren und im Einzelzeitfahren viel Zeit einbüßen.
Wind/Pavé: Als Franzose sollte er in Roubaix schon einmal vorbei geschaut haben. Schwer einzuschätzen, ob ihm die 9. Etappe liegen wird.
- Prognose:
Was für Richie Porte gilt, gilt auch für Romain Bardet: Wenn nicht jetzt, wann dann? Der Franzose zählt zweifelsohne zu den absoluten Tour de France Favoriten, muss in den Bergen jedoch äußerst aktiv unterwegs sein, da er im Kampf gegen die Uhr unterlegen ist. Seine Frische könnte am Ende der anstrengenden drei Wochen den Ausschlag geben. Ein Platz auf dem Podium ist wahrscheinlich.
Fazit: Wir haben keine Ahnung, wer die Tour de France 2018 gewinnt
Nicht selten gibt es bei dreiwöchigen Landesrundfahrten klare Favoriten und sogar Seriensieger. In diesem Jahr jedoch fällt es äußerst schwer, einen klaren Tour de France Favoriten zu nennen. Sicher hängt vieles davon ab, ob Chris Froome an den Start stehen darf, oder ob die ASO das Startverbot gegen den Briten durchbekommt. Doch selbst wenn der viermalige Sieger mit dabei sein wird, ist er bei weitem nicht so klar zu favorisieren, wie bei den vorangegangenen Austragungen. Uns steht also eine spannende Tour de France bevor, über deren Ausgang man lediglich wild spekulieren kann. Mit dem Giro d’Italia in den Beinen haben Chris Froome und Tom Dumoulin mit Nachteilen zu kämpfen. Auch wenn sie starke Zeitfahrer sind, kann dies eigentlich nicht für den Titelgewinn reichen. Ein Einbruch ist daher deutlich wahrscheinlicher. Unser Tipp geht an Richie Porte, der in diesem Jahr beste Voraussetzungen vorfindet und endlich beweisen muss, dass er über drei Wochen hinweg konstant bleiben kann. Mikel Landa wird im Zeitfahren Rückstände hinnehmen müssen, ebenso wie Romain Bardet. Durch die Pavé-Etappe und das Teamzeitfahren kann sich Porte von Anfang an auf das Verteidigen konzentrieren. Auf Grund der interessanten Etappenkonstellationen werden wir viele Attacken sehen und eine rundum spannende Frankreich-Rundfahrt. Unser Tipp:
- 1. Richie Porte (BMC)
2. Mikel Landa (Movistar)
3. Romain Bardet (AG2R La Mondiale)