Radsport: Die Tour de France 2020 scheint so gut besetzt zu sein wie selten zuvor. Auf Grund der Terminverschiebungen schicken fast alle Mannschaften ihr Top-Aufgebot nach Frankreich. Wir blicken auf diejenigen, welche nicht zu den Topfavoriten auf den Gesamtsieg zählen, aber insgeheim vom Podium in Paris träumen.
AG2R La Mondiale: Romain Bardet & Pierre Latour
Im Team AG2R La Mondiale richtet sich der Fokus erneut – diesmal jedoch zum letzten Mal – auf Romain Bardet und Pierre Latour. Das französische Duo visiert mindestens einen Platz in den Top 10 an. Zumindest bei Romain Bardet kamen in den vergangenen Monaten – fast schon Jahren – aber erhebliche Zweifel über sein Leistungsvermögen auf. Nach seinen Podiums-Platzierungen 2016 und 2017 ging es stetig bergab. Im vergangenen Jahr kletterte er nur auf Rang 15. Und auch seine Leistungen danach waren eher enttäuschend. Gut möglich, dass man bei AG2R auf Pierre Latour setzt. Der drei Jahre jüngere Franzose scheint seinen Kapitän überholt zu haben. Da es am Ende aber ohnehin für AG2R La Mondiale eng werden dürfte, überhaupt in die Top 10 zu fahren, wären sie vielleicht sogar gut damit beraten, das Gesamtklassement völlig außen vor zu lassen. Schließlich gibt es auch das Bergtrikot zu gewinnen und 21 Etappen.
Astana: Miguel Angel Lopez & Ion Izagirre
Kein Radrennen sollte beim Aufzählen der Favoriten ohne das Team Astana auskommen. Und auch wenn sie zur Tour de France 2020 keinen Topfavoriten schicken, ist mit der Mannschaft in Cyan durchaus zu rechnen. Ion Izagirre wird seine sechste Tour de France bestreiten. Wirklich überzeugen konnte er bei der Grand Boucle als Klassementfahrer aber noch nie. Sein bestes Resultat war Rang 22. Daher konzentriert man sich wohl eher auf den Kolumbianer Miguel Angel Lopez, welcher seine erste Tour de France in Angriff nehmen wird. Bislang beendete er zweimal den Giro d’Italia und dreimal die Vuelta a Espana – immer fuhr er in die Top 10, zweimal sogar aufs Podium. Kommt er in Topform nach Nizza, ist ihm dies auch bei der Tour de France 2020 zuzutrauen. Zugute kommt ihm nämlich, dass es kein flaches Zeitfahren zu meistern gibt.
Bahrain – McLaren: Mikel Landa & Wouter Poels
Mikel Landa und Wouter Poels hatten es satt, immer nur die Helferrolle zu spielen. Zuletzt bei Sky bzw. Ineos aktiv, überzeugten sie als starke Kletterer und treue Domestiken. Im Alter von 30 bzw. 32 Jahren ist es nun an der Zeit, eigene Wege zu gehen. Gemeinsam im Team Bahrain – McLaren erhalten sie jetzt die Chance, endlich selbst ins Rampenlicht zu klettern. Doch wie stark sind sie wirklich, wenn sie die Kapitänsrolle inne haben? Mikel Landa fuhr immerhin schon beim Giro d’Italia zweimal in die Top 4 und bei der Tour de France dreimal in die Top 7 – und das teilweise als Helfer. In Topform ist er gefährlich, doch sein Problem scheint die Konstanz zu sein. Immerhin kann sich der Spanier in diesem Jahr darüber freuen, dass es kaum Zeitfahrkilometer zu meistern gilt. Gleiches trifft auf Wouter Poels zu, der in seiner Karriere nahezu nie auf eigene Rechnung fahren durfte. Will der Niederländer aus dem Schatten seiner ehemaligen Kapitäne treten, ist jetzt die Zeit dafür gekommen.
EF: Daniel Martinez & Rigoberto Uran
Auffallend unterwegs sind die Profis von EF allein wegen ihrer knalligen Trikots ohnehin bei jedem Rennen. Durch interessante Fahrertypen multipliziert sich die Attraktivität dieser Mannschaft aber noch einmal ungemein. Mit dafür verantwortlich ist seit geraumer Zeit auch Daniel Martinez. Der Kolumbianer gewann zuletzt das Critérium du Dauphiné. Während er bei einwöchigen Rundfahrten sein Können schon mehrfach unter Beweis gestellt hat, muss er dies nun bei einer großen Landesrundfahrt erstmals tun. Bleibt er in Schlagdistanz, ist mit ihm vor allem im Bergzeitfahren nach La Planche des Belles Filles zu rechnen. Teilen muss er sich die Kapitänsrolle aber wohl mit seinem Landsmann Rigoberto Uran. Der erfahrene Kletterer fuhr 2017 auf Rang 2 der Tour de France und schon bei jeder Grand Tour mindestens einmal unter die ersten 7. Derzeit scheint er jedoch zu schwächeln. Durchaus möglich, dass er in die zweite Reihe rutscht und auf Etappenjagd geht, während Daniel Martinez der Mann für die Gesamtwertung ist.
Ineos: Richard Carapaz & Pavel Sivakov
Auch ohne Chris Froome und Geraint Thomas kann das Team Ineos eine Top-Truppe zur Tour de France 2020 schicken. Hinter Kapitän Egan Bernal werden Richard Carapaz und Pavel Sivakov im Hochgebirge zu sehen sein. Vor allem auf Richard Carapaz müssen wir achten. Der Ecuadorianer gewann im vergangenen Jahr den Giro d’Italia. Sollte sein Kapitän schwächeln, kann er in die Bresche springen. Pavel Sivakov fährt erst seine dritte Grand Tour und ist ganz klar das dritte Glied in der Reihe. Da die Kapitänsrollen beim Team Ineos in diesem Jahr klar verteilt sind, dürfte der Russe kaum auf die Gesamtwertung schielen. Da wir sowieso ein knallhartes Team-Duell mit Jumbo – Visma zu erwarten haben, kann es sich Ineos kaum leisten, Rücksicht auf zwei oder gar drei Fahrer zu nehmen.
Jumbo – Visma: George Bennett, Tom Dumoulin & Sepp Kuss
Noch vor wenigen Monaten hätte es wohl kaum jemand für möglich gehalten, dass das Team Ineos im Hochgebirge derartig Konkurrenz bekommt. Doch die Rennen nach der Corona-Pause haben gezeigt: Jumbo – Visma hat die Herausforderung angenommen. Mit Kapitän Primoz Roglic stellt man plötzlich den Topfavoriten auf den Gesamtsieg. Und dahinter versammelt sich eine ganze Reihe an Fahrern, welche als Kapitäne definitiv den Anspruch auf die Top 10 hätten. Tom Dumoulin trifft die positive Entwicklung von Primoz Roglic wohl am meisten. Denn eigentlich will der Giro-Sieger aus dem Jahr 2017 nach Rang zwei vor zwei Jahren auch bei der Tour de France endlich den Gesamtsieg einfahren. Bei so wenigen Zeitfahrkilometern jedoch muss sich der Niederländer hinten anstellen. Gleiches gilt für George Bennett und Sepp Kuss. Der Neuseeländer bzw. der US-Amerikaner haben in den vergangenen Monaten einen ordentlichen Sprung nach vorn gemacht. Gemeinsam werden sie um das Gelbe Trikot für Primoz Roglic kämpfen und dem Team Ineos ordentlich einheizen.
Mitchelton – Scott: Esteban Chaves, Mikel Nieve & Adam Yates
Obwohl das Team Mitchelton – Scott drei erstklassige Kletterer zur Tour de France 2020 schickt, verneinen sie Ambitionen in puncto Gesamtwertung. Statt auf das Gelbe Trikot zu schielen, will die australische Equipe erneut auf Etappenjagd gehen. Dafür haben sie zahlreiche Fahrer in ihren Reihen. Sollte sich jedoch nach einigen Etappen noch immer einer ihrer Fahrer im Gesamtklassement in einer aussichtsreichen Position befinden, könnte ein Umdenken stattfinden. Esteban Chaves gelang es schließlich schon zweimal – einmal beim Giro und einmal bei der Vuelta – das Podium zu erreichen. Adam Yates verpasste den Sprung aufs Podium bei der Tour de France 2016 nur knapp. Kurios: Mikel Nieve beendete den Giro d’Italia und die Vuelta a Espana bereits fünfmal exakt auf Rang 10. Der mittlerweile 36-Jährige dürfte aber definitiv nur noch als Etappenjäger und Helfer eingesetzt werden.
Movistar: Enric Mas & Alejandro Valverde
Seit vielen Jahren zählt das Team Movistar zu den stärksten Teams der Welt. Doch vor dieser Saison führte die spanische Equipe einen ziemlich einschneidenden Umbruch durch. Viele namhafte Profis haben die Mannschaft verlassen. Ex-Weltmeister Alejandro Valverde ist jedoch weiterhin das große Aushängeschild. Im Alter von nun 40 Jahren ist ihm aber kaum zuzutrauen, bei der Tour de France 2020 den Sprung aufs Podium zu schaffen. Schließlich gelang ihm dies in seiner langen Karriere ohnehin nur einmal. Daher könnte sein Landsmann Enric Mas die Speerspitze für das Gelbe Trikot sein. Der 25-Jährige beendete die Vuelta a Espana 2018 auf dem zweiten Gesamtrang und hat mehrfach gezeigt, dass er sein Potential vermutlich noch nicht vollständig ausgeschöpft hat.
Trek – Segafredo: Bauke Mollema & Richie Porte
Auch mit Trek – Segafredo ist bei der Tour de France 2020 zu rechnen. Den Gesamtsieg traut man Bauke Mollema und Richie Porte vermutlich nicht mehr zu. Doch im Kampf um das Podium können der Niederländer und der Australier eventuell noch immer eingreifen. Bauke Mollema fuhr bei großen Landesrundfahrten immerhin schon sechsmal in die Top 10. Der Kämpfer wird froh darüber sein, dass es kaum Zeitfahrkilometer zu absolvieren gilt. Darüber weniger erfreut ist mit Sicherheit sein Teamkollege Richie Porte. Der starke Zeitfahrer muss es diesmal in den Bergen richten. Kaum zu glauben, dass der mittlerweile 35-Jährige bei großen Landesrundfahrten erst zweimal zu den zehn Besten gehörte. Während er zahlreiche einwöchige Rundfahrten siegreich beenden konnte, blieb ihm das Glück über drei Wochen nahezu ausnahmslos verwehrt.
Nairo Quintana, Ilnur Zakarin & Daniel Martin
Dass Nairo Quintana noch einmal zum erweiterten Favoritenkreis einer Tour de France zu zählen ist, war vor Jahresbeginn eigentlich kaum vorstellbar. Der Kolumbianer hat in den vergangenen Jahren stark abgebaut. Doch seit seinem Wechsel zum Team Arkéa – Samsic blüht der mittlerweile 30-Jährige förmlich auf. Er gewann die Tour de La Provence und die Tour du Haut-Var, sowie eine Etappe bei Paris – Nizza. Kommt er mit dieser Form zur Tour de France, müssen wir ihn tatsächlich wieder auf der Rechnung haben. Ähnlich bergab wie bei Nairo Quintana bis Ende 2019 ging es für Ilnur Zakarin und Daniel Martin. Der russische und der irische Kletterer sind bei weitem nicht mehr so explosiv, wie es vor einigen Jahren noch der Fall war. Sollten sie es in die Top 10 schaffen, wäre dies wohl eine große Überraschung.
Guillaume Martin, Julian Alaphilippe & David Gaudu
Die französischen Fans können bei der Tour de France 2020 nicht nur mit Thibaut Pinot, Romain Bardet und Pierre Latour mitfiebern. Drei weitere Landsleute haben in Topform durchaus Chancen, die Top 10 zu erreichen. Guillaume Martin werden wir dabei erstmals in Diensten der Mannschaft Cofidis beobachten können. Der 27-jährige Philosoph hat sich in den vergangenen drei Jahren stetig verbessert und peilt jetzt erstmals den Sprung unter die besten Zehn an. Dies dürfte für Julian Alaphilippe das Mindestziel sein. Der Kapitän von Deceuninck – Quick-Step hätte im Vorjahr fast das Podium erreicht und fuhr tagelang im Gelben Trikot sogar Richtung Gesamtsieg. Seine eigenen Ambitionen hinten anstellen muss David Gaudu. Der Edelhelfer von Thibaut Pinot könnte trotzdem ein Mann für die Top 10 sein.
Domenico Pozzovivo & Fabio Aru
Wer unsere Liste der Tour-Topfavoriten und der Podiums-Kandidaten aufmerksam verfolgt hat, der wird festgestellt haben, dass bislang kein einziger Italiener genannt wurde. Auch wenn es vermutlich keinen italienischen Gesamtsieger geben wird, schickt das radsportbegeisterte Land immerhin zwei starke Kletterer ins Rennen, die Chancen auf Etappensieg haben sollten. Domenico Pozzovivo hat in seiner langjährigen Karriere bereits bewiesen, dass man ihn nicht unterschätzen sollte. Sechsmal fuhr er beim Giro d’Italia schon unter die ersten 10. Jetzt soll es endlich auch in Frankreich gelingen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der 37-Jährige einen Etappensieg anpeilt oder gar auf das Bergtrikot schielt. Gleiches gilt wohl für Fabio Aru. Der Italiener fährt seiner Bestform noch immer hinterher. Zu rechnen ist mit ihm als Edelhelfer für Tadej Pogacar und als Kandidat für gefährliche Ausreißergruppen.