Radsport: 176 Fahrer in 22 Teams nehmen an der Tour de France 2020 teil. Wir blicken auf jeden Teilnehmer und spekulieren über die Ziele der Mannschaften. Im ersten von zwei Teilen widmen wir uns all denjenigen Teams, welche ihren Fokus auf Etappensiege legen dürften.
Deceuninck – Quick-Step: Bennett & Alaphilippe garantieren Erfolg
Das Wolfsrudel von Deceuninck – Quick-Step gilt seit einigen Jahren als das stärkste Team der Welt. Erfolgreich auf nahezu jedem Terrain, will man auch die Tour de France 2020 entscheidend mitprägen. Dafür verantwortlich sind vor allem zwei Profis. Neuzugang Sam Bennett soll im Sprint Siege einfahren. Lokalmatador Julian Alaphilippe könnte gleich mehrere Ziele verfolgen. Zuzutrauen ist ihm eine gute Position in der Endabrechnung ebenso, wie der Gewinn des Bergtrikots oder der ein oder andere Etappensieg. Der Rest der Mannschaft klingt nach der Crème de la Crème der Klassikerjäger. Tim Declercq, Dries Devenyns, Rémi Cavagna und Kasper Asgreen werden auf allen Flachetappen den Ausreißern hinterherjagen, wobei vor allem dem zuletzt genannten irgendwann während der drei Wochen auch ein Soloritt zuzutrauen ist. Michael Morkov gilt als bester Anfahrer der Welt und ist für den Erfolg von Sam Bennett hauptverantwortlich. Und Bob Jungels wird auf hügeligem Terrain sein Glück in der Flucht versuchen, wenn ein Massensprint ausgeschlossen ist.
Lotto – Soudal: Ewan für die Sprints, der Rest in die Gruppen
Bei Lotto – Soudal dürfen sich nahezu alle Fahrer auf Freiheiten freuen – nur auf Flachetappen nicht. Dann nämlich werden alle für Caleb Ewan fahren. Der kleine Australier gewann im Vorjahr drei Etappen und damit die meisten aller Sprinter. So soll es auch bei der Tour de France 2020 laufen. Ihm zur Seite stehen in der Sprintvorbereitung vor allem Anfahrer Jasper De Buyst und die beiden Deutschen Roger Kluge und John Degenkolb. Wird es hügelig bis bergig, dürfen Philippe Gilbert und Thomas De Gendt mit all ihrer Erfahrung einem Etappensieg hinterherjagen. Steff Cras und Frederik Frison komplettieren die Mannschaft, werden aber unter normalen Umständen nur als Helfer eingesetzt.
Cofidis: Viviani als Aushängeschild, Martin als Hoffnung
Seit vielen Jahren ist Sponsor Cofidis im Radsport aktiv. Dabei erlebte die Französische Equipe viele Höhen und Tiefen. Nach ein paar schwächeren Jahren könnte es 2020 wieder aufwärts gehen. Dafür verantwortlich ist hauptsächlich Sprinter Elia Viviani. Der Italiener gewann im Vorjahr seine erste Tour-Etappe und kann trotz Teamwechsel auch in diesmal auf einen starken Zug bauen. Christophe Laporte und Simone Consonni wären selbst in der Lage, Top-Resultate einzufahren, werden sich aber der Stallorder beugen müssen. Der Rest der Mannschaft wird auf Flachetappen hin und wieder die Ausreißer verfolgen. Eigene Ambitionen gilt es nur dann zu verfolgen, wenn das Terrain etwas anspruchsvoller wird. Mit Guillaume Martin hat Cofidis einen potentiellen Top-10-Kandidaten in den eigenen Reihen. Unterstützt wird er von einer durchaus starken Kletterer-Fraktion, welche im Hochgebirge gewiss auch eigene Ambitionen verfolgen darf. Besonders Nicolas Edet und Jesus Herrada sollten wir dafür auf der Rechnung haben. Anthony Perez und Pierre-Luc Perichon werden aber ebenfalls offensiv agieren.
NTT: Mit Nizzolo will NTT die Top-Sprinter ärgern
Das Team NTT galt vor Beginn der Saison wohl als das schwächste auf dem Papier. Nach der Verpflichtung von Bjarne Riis als sportliches Mastermind hat sich dies jedoch rasant geändert. Vor allem Giacomo Nizzolo scheint davon zu profitieren. Der Italiener gewann eine Etappe bei der Tour Down Under und bei Paris Nizza. Außerdem kürte er sich zum Italienischen Meister und zum Europameister. Jetzt will er die großen Namen bei der Tour de France ärgern. Dafür stellt man ihm mit Ryan Gibbons, Edvald Boasson Hagen und Max Walscheid drei weitere endschnelle Männer zur Seite. Boasson Hagen jedoch sollten wir nicht nur als Helfer betrachten. Der Norweger ist immer noch dazu in der Lage, anspruchsvolle Etappen zu gewinnen – zur Not aus einer kleinen Gruppe heraus. Österreichs Michael Gogl wird vorwiegend für die Jagd auf Ausreißer eingesetzt werden. Ist das Etappenprofil etwas anspruchsvoller, dürfen Michael Valgren und Roman Kreuziger ihr Glück versuchen. Domenico Pozzovivo ist der Mann für das Hochgebirge und eventuell sogar für die Gesamtwertung. Mit seinen 37 Jahren dürfen wir jedoch nicht mehr allzu viel erwarten.
B&B Hotels – Vital Concept: Coquard darf endlich bei der Tour glänzen
Von 2014 bis 2016 hat Bryan Coquard als Riesentalent dreimal an der Tour de France teilgenommen. Danach wurde er – bzw. seine Mannschaft – nicht mehr eingeladen. Nun erhält der Franzose eine weitere Chance. Ihm zur Seite steht eine Truppe, welche ihm größtenteils dabei helfen kann. Jens Debusschere zum Beispiel ist ein erfahrener Anfahrer, der definitiv weiß, wie er einen Sprinter gut in Position fahren kann. Auch Kevin Reza und Cyril Barthe haben schnelle Beine. Klappt es nicht mit einem guten Resultat in den ersten Massensprints, dürfen sie sicher auch das ein oder andere Mal in eine Fluchtgruppe gehen. Dort finden wir vermutlich Maxime Chevalier, Cyril Gautier und Quentin Pacher eher, wenn das Profil etwas anspruchsvoller ist. In den Bergen schlägt dann die Stunde von Pierre Rolland. Der mittlerweile 33-Jährige gewann in seiner Karriere schon zwei Bergetappen bei der Tour de France, fährt seiner Bestform aber seit geraumer Zeit hinterher.
Israel Start-Up Nation: Nur Gruppen machen Hoffnung auf Erfolg
Bei der Israel Start-Up Nation weht in der kommenden Saison ein frischer Wind. Mit Chris Froome wird sich die gesamte Ausrichtung der Mannschaft ändern. Auswirkungen auf die Tour de France 2020 hat die Verpflichtung jedoch nicht. Während der vierfache Toursieger Zuhause sitzt, werden 8 Profis der Israel Start-Up Nation irgendwie versuchen, gute Resultate einzufahren. Und einfach wird das nicht. Denn echte Siegkandidaten suchen wir vergeblich. André Greipel gewann in seiner Karriere 11 Tour-Etappen. Seinen letzten Sieg allerdings durfte er vor 19 Monaten bejubeln. Es scheint unrealistisch, dass er noch einmal ernsthaft in dem Kampf um einen Etappensieg wird eingreifen können. Gleiches gilt wohl für Daniel Martin. Der Ire fuhr bei der Tour de France schon dreimal in die Top 10. Von seiner Spritzigkeit haben wir zuletzt aber nichts mehr gesehen. So bleibt beiden vermutlich nur die Herausforderung Fluchtgruppe. Genau dort fühlt sich auch Nils Politt wohl. Erwischt er den richtigen Postabgang, kann er auf flachem und leicht welligem Terrain als Solist erfolgreich sein. Hugo Hofstetter und Tom van Asbroeck könnten André Greipel in den Massensprints unterstützen oder gar für ihn in die Bresche springen. Ben Hermans und Krists Neilands mögen es wellig. Niv Guy wird als erster Israeli die Tour de France bestreiten und mit Sicherheit auch in der ein oder anderen Fluchtgruppe zu sehen sein.
Sunweb: Angriff lautet die Devise
Ähnlich wie der Israel Start-Up Nation geht es der deutschen Mannschaft Sunweb. Trotz starker Fahrer im Aufgebot zählen sie auf keinem Terrain zu den Favoriten. Es muss also experimentiert werden. Bei Flachetappen hofft die Teamleitung auf den nächsten Sprung von Cees Bol. Der 25-jährige Niederländer könnte in einem Massensprint überraschen. Ihm unterstützend zur Seite steht vor allem Nikias Arndt, der erfahrungsgemäß auch gut für eine Fluchtgruppe sein kann. Joris Nieuwenhuis und Casper Pedersen werden ihren beiden Sprintern helfend zur Seite stehen oder Teil einer Ausreißergruppe sein. Die andere Hälfte des Teams besteht aus Profis, welche ihre Fähigkeiten vorwiegend in welligem oder gar bergigem Terrain in erfolge ummünzen könnten. Sören Kragh Andersen hat bei der Tour schon einmal bewiesen, dass er klettern kann. Von Nicolas Roche wissen wir das seit vielen Jahren, auch wenn seine besten Zeiten vorbei sind. Noch am Anfang ihrer besten Zeiten stehen Marc Hirschi und Tiesj Benoot. Wird es wellig, aber nicht allzu bergig, können wir fest mit dem Schweizer und dem Belgier in einer Ausreißergruppe rechnen.
CCC: Überall gut, nirgends Weltklasse
Nach dieser Saison wird sich der Sponsor CCC aus dem Profiradsport verabschieden. Die letzte Tour de France soll aber noch ein voller Erfolg werden. Die Frage ist nur: wie? Denn im Team CCC entdecken wir zwar einige große Namen, doch wirklich überzeugen konnten diese zuletzt nicht mehr. Da wäre zum Beispiel Greg van Avermaet zu nennen. Der Belgier zählt immer noch zu den stärksten Klassikerjägern. Aber gegen Fahrer wie Peter Sagan wird es auf entsprechenden Teilstücken eben richtig schwer. Typische Klassiker-Etappen gibt’s nämlich keine. In reinen Massensprints muss CCC auf Matteo Trentin setzen. Der schnelle Italiener wartet aber seit fast einem Jahr auf einen Sieg. Vielleicht wird die Teamleitung daher das ein oder andere Mal überraschend auf den Deutschen Jonas Koch setzen. Schnell ist er allemal, aber gegen diese starke Konkurrenz? Wahrscheinlicher ist daher ein Erfolg durch eine lange Flucht. Mit Alessandro De Marchi hat man dafür genau den richtigen Profi im Team. Der Italiener ist bekannt für seine offensive Fahrweise im Hochgebirge. Gleiches trifft auf Jan Hirt zu. Auch Ilnur Zakarin könnte sich in Ausreißergruppen schleichen, sollte er – wie leider schon fast zu erwarten ist – in der Gesamtwertung nicht mit den Topleuten mithalten können. Komplettiert wird das Aufgebot durch den Schweizer Michael Schär, der in der Ebene drücken kann wie kaum ein Zweiter und durch den Deutschen Simon Geschke, der vielleicht sogar das beste Jahr seiner Karriere hat. Kann er es mit einem weiteren Etappensieg bei der Tour de France krönen?
Mitchelton – Scott: In den Bergen wollen sie stark sein
Sehr schwer einzuschätzen ist in dieser Saison das Team Mitchelton – Scott. Früher als Etappenjäger bekannt, haben sie sich zu einem starken Team für die Gesamtwertungen entwickelt. Laut Teamleitung soll es bei der Tour de France 2020 aber nun wieder um Etappensiege gehen. Kaum zu glauben, denn mit Adam Yates, Mikel Nieve und Esteban Chaves gibt es gleich drei starke Berg- und Klassementfahrer in der Mannschaft. Sollten sie tatsächlich nicht auf das Gelbe Trikot fahren, sind alle drei ernstzunehmende Kandidaten im Kampf um Tagessiege und womöglich sogar das Bergtrikot. Daryl Impey, Christopher Juul Jensen und Jack Bauer werden wir in Fluchtgruppen sehen, wenn wir vom Hochgebirge noch ein Stückchen entfernt sind. Bleibt es komplett flach, baut Mitchelton – Scott in den Massensprints auf Luka Mezgec. Komplettiert wird der Achter von Sam Bewley. Der Neuseeländer fährt mit 33 Jahren seine erste Tour de France.
Total Direct Energie: Jeden Tag in die Fluchtgruppe
Mit sieben Franzosen und einem Italiener startet Total Direct Energie in die Tour de France 2020. Und es kann durchaus sein, dass ausgerechnet der Italiener das heißeste Eisen im Feuer ist. Niccolò Bonifazio gilt nämlich als gefährlicher Sprinter – und für ihn werden sie die Massensprints anfahren. Besonders wichtig ist für ihn Geoffrey Soupe, der als starker Anfahrer bekannt ist und zur Not auch selbst einspringen kann. Ansonsten muss Total Direct Energie das Heil in der Flucht suchen. Mit Lilian Calmejane ist man dafür bestens aufgestellt. Den Franzosen werden wir nicht nur bei einem welligen Teilstück in der Ausreißergruppe sehen. Ebenfalls für ihre offensive Fahrweise bekannt sind Romain Sicard, Fabien Grellier, Anthony Turgis und Jerome Cousin. Da sie alle ein ähnliches Terrain – nicht zu flach und nicht zu bergig – bevorzugen, werden wir wohl auf nahezu all diesen Etappen mindestens einen von ihnen in der Attacke sehen. Mathieu Burgaudeau hingegen wird sich wohl verstecken. Der erst 21-Jährige fährt seine erste Grand Tour und ist vorwiegend hier um zu lernen.