Radsport: Für die Profis auf der Straße ist die Saison 2022 beendet. Vereinzelt finden noch kleine Kriterien und Rundfahrten statt, aber das letzte WorldTour-Rennen liegt längst hinter uns. Zeit, zurückzublicken. Heute schauen wir uns die drei großen Landesrundfahrten in Italien, Frankreich und Spanien etwas genauer an.
Giro d’Italia: Bora – hansgrohe gelingt das Meisterstück
Es ist vollbracht: Die deutsche Mannschaft Bora – hansgrohe gewinnt im Mai 2022 ihre erste Grand Tour. Jai Hindley bezwingt in einem spannenden Duell Richard Carapaz (Ineos Grenadiers). Am Ende der drei Wochen liegt er 1:18 vor dem Ecuadorianer, der im Jahr 2019 bereits siegreich war. Die Entscheidung fiel erst am vorletzten Tag, als Jai Hindley seinen Kontrahenten den Passo Fedaia hinauf entscheidend distanzieren konnte. Er übernahm Rosa und gab es auch im abschließenden Zeitfahren nicht mehr ab. Etwas weniger spannend war der Kampf um die Punktewertung und das Bergtrikot. In den Sprints erwies sich Arnaud Démare (Groupama – FDJ) als deutlich stärkster Fahrer. Der Franzose gewann drei Etappen. Koen Bouwman (Jumbo – Visma) aus den Niederlanden sammelte in den Bergen so viele Punkte, dass er am Ende des Giro d’Italia fast doppelt so viele auf dem Konto hatte als der Zweitplatzierte.
Feel-Good-Story: Ehrlicherweise gab es beim diesjährigen Giro d’italia gleich mehrere Feel-Good-Storys zu verfolgen. Angefangen bei Vincenzo Nibali (Astana), der im Alter von 37 Jahren am Saisonende seine Karriere beenden sollte. Er fuhr zum letzten Mal den Giro und landete auf dem undankbaren vierten Gesamtrang. Dennoch konnte er somit einmal mehr unter Beweis stellen, dass er zu den größten Radprofis unserer Zeit gehörte. Schön war auch der Etappensieg von Mark Cavendish (Quick-Step Alpha Vinyl), der damit beim Giro d’Italia auf satte 16 kommt. Nie vergessen wird diese drei Wochen in Italien Juan Pedro Lopez (Trek – Segafredo). Der Spanier übernahm nach der dritten Etappe die Maglia Rosa und gab sie erst zur 14. wieder ab. Letztendlich durfte er sich in Verona als bester Jungprofi feiern lassen.
Nicht zu glauben: Für eine absolute Feel-Good-Story sorgte eigentlich auch Biniam Girmay (Intermarché – Wanty – Gobert Matériaux). Der Eritreer gewann die zehnte Etappe und sorgte damit für einen Riesen-Erfolg für die Schwarzafrikaner. Doch nur wenige Augenblicke – Wortspiel beabsichtigt – später sollte die Feel-Good-Story zur traurigen Geschichte werden. Denn bei der Siegerehrung schoss sich Girmay selbst den Sektkorken ins Auge. Er musste aufgeben und eine Rennpause einlegen.
Deutsches Highlight: Sich ein deutsches Highlight beim Giro d’Italia 2022 rauszusuchen ist fast nicht möglich. Denn die Italien-Rundfahrt war in diesem Jahr voll von deutschen Spitzenleistungen. Angefangen bei der starken Teamleistung des Raublinger Rennstalls Bora – hansgrohe, über den siebten Gesamtrang von Emanuel Buchmann bis hin zum Etappensieg von Lennard Kämna auf dem Ätna war einfach alles dabei. Mit Rick Zabel (Israel – Premier Tech) und Lennard Kämna durften sogar zwei deutsche Profis kurzzeitig das Bergtrikot tragen. Für DAS deutsche Highlight, an das man sich aber auch in Jahren noch erinnern wird, sorgte Lennard Kämna aber auf der vorletzten Etappe. Dort nämlich ließ er sich im Hochgebirge aus der Spitzengruppe zurückfallen, um Teamkollege Jai Hindley zu unterstützen. Durch seine Tempoverschärfung gelang es schließlich, Richard Carapaz zu distanzieren und den Giro-Sieg von Jai Hindley klarzumachen. Ein unvergesslicher Moment.
Tour de France: Jumbo – Visma bezwingt Pogacar
Auch bei der Tour de France bekamen wir einmal mehr zu sehen, dass der Radsport ein Mannschaftssport ist. Denn das niederländische Team Jumbo – Visma drückte der Frankreich-Rundfahrt dermaßen den Stempel auf, dass sogar der zweifache Toursieger Tadej Pogacar (UAE) daran zerbrach. Doch bevor Jonas Vingegaard in Aktion trat, gehörte die Tour de France voll und ganz Wout van Aert. Der Belgier eroberte auf der zweiten Etappe das Gelbe Trikot und durfte es vier Tage lang tragen. Neben drei Etappensiegen darf sich Wout van Aert am Ende in Paris auch über den Gewinn der Punktewertung freuen. Und sind wir mal ehrlich: Er hätte auch das Bergtrikot gewinnen können. Doch das Gepunktete sollte am Ende genauso Jonas Vingegaard gehören, wie das Gelbe. Denn der Däne knöpfte Kontrahent Pogacar vor allem an zwei Tagen wertvolle Zeit ab. Hinauf zum Col du Granon und auf dem Weg nach Hautacam distanzierte der Däne den Slowenen um insgesamt fast fünf Minuten. Damit hätte vor der Tour wohl niemand gerechnet, zumal Vingegaard eigentlich nur als Co-Kapitän von Primoz Roglic ins Rennen ging.
Feel-Good-Story: Die 109. Tour de France sorgte für einige Fell-Good-Storys. Angefangen mit dem Grand Depart in Dänemark, wo für frei Tage lang die dänischen Fans für weltweites Staunen sorgten. In Zehnerreihen standen die Zuschauer teilweise am Straßenrand. Radsportbegeisterung pur. Gekrönt wurde das Ganze durch den starken Auftritt von Magnus Cort (EF). Der Däne gewann die ersten Bergwertungen allesamt, so dass er auf elf Zähler kam. So viele Wertungen in Folge hat noch nie ein Radprofi bei der Tour de France gewinnen können. Der Schnauzbart sorgte damit für einen echten ReCort. Doch dies sollte nicht das einzige Highlight auf dänischem Boden sein. Auf der zweiten bzw. dritten Etappe jubelten Fabio Jakobsen (Quick-Step Alpha Vinyl) und Dylan Groenewegen (Jumbo – Visma) über einen Etappensieg. Keine zwei Jahre zuvor kam es zwischen diesen beiden zu einem schwerwiegenden Unfall. Bei der Polen-Rundfahrt drängte Groenewegen Jakobsen im Massensprint dermaßen in die Bande, dass der Niederländer ins Koma fiel und fast verstarb. Dass beide diesen Unfall überlebt und gut verkraftet haben, zeigte sich bei der diesjährigen Tour de France bereits in der ersten Woche. Herzzerreißend war dann auch noch der Tagessieg von Hugo Houle (Israel – Premier Tech). Der Kanadier gewann die 16. Etappe unter Tränen. Er widmete seinen Erfolg seinem verstorbenen Bruder. Mit ihm gemeinsam sah er sich früher immer die Tour de France an. Als er verstarb, versprach er ihm, eines Tages eine Tour-Etappe für ihn zu gewinnen. Dieses Versprechen hat er nun eingelöst.
Nicht zu glauben: Einfach kaum zu glauben war bei der diesjährigen Tour de France die starke Leistung von Wout van Aert (Jumbo – Visma). Der Belgier war auf jedem Terrain nicht nur ein starker Helfer, sondern selbst immer ein Siegkandidat. Egal ob im Hochgebirge, im Zeitfahren, auf Kopfsteinpflaster oder im Massensprint – mit Wout van Aert liegt man als Tipp meist ganz gut. Als er dann auf der 19. Etappe auf eine Teilnahme am Massensprint verzichtete. Sprang Teamkollege und Anfahrer Christopher Laporte für ihn ein – und gewann. Einfach unglaublich!
Deutsches Highlight: Wer sonst könnte für das deutsche Highlight bei der diesjährigen Tour de France gesorgt haben, wenn nicht Simon Geschke (Cofidis)? Der Berliner trug satte neun Tage lang das Bergtrikot und hätte es fast bis nach Paris geschafft. Doch dann kam die letzte Bergetappe und Jonas Vingegaard machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Am Ende fehlen lediglich acht Punkte auf den Toursieger. Geschke selbst nahm es mit Fassung: „Der beste Bergfahrer hat das Bergtrikot gewonnen.“ Recht hat er. Schade ist es trotzdem. Nicht vergessen wollen wir außerdem den starken Auftritt von Lennard Kämna (Bora – hansgrohe). Nach seinem Etappensieg beim Giro d’Italia wäre ihm selbiges fast bei der Tour de France gelungen. Hinauf zu La Planche des Belles Filles wurde Kämna nur wenige Meter vor der Ziellinie doch noch überholt.
Vuelta a Espana: Evenepoel wird zum Grand-Tour-Fahrer
Seit einigen Jahren hören wir immer wieder, dass Remco Evenepoel (Quick-Step Alpha Vinyl) der neue Eddy Merckx sein soll. Und auch wenn er bereits einige beeindruckende Resultate eingefahren hat – und dieser Vergleich ohnehin unfair ist – blieb er zumindest bei großen Landesrundfahrten hinter seinen Erwartungen zurück. Das sollte sich bei der Vuelta a Espana 2022 ändern. Der Belgier übernahm auf der sechsten Etappe das Rote Trikot und gab es bis Madrid nicht mehr ab. Die zahlreichen Attacken von Enric Mas (Movistar) – der damit zum dritten Mal Zweiter bei der Vuelta wird – konnte er auch im Hochgebirge abwehren. Das Podium komplettiert in Person von Juan Ayuso (UAE) ein weiterer Spanier. Im Alter von jetzt 20 Jahren ist er die ganz große Hoffnung einer gesamten Nation.
Feel-Good-Story: Auch bei der Vuelta a Espana sorgte die Mannschaft Jumbo – Visma für ein wahres Feuerwerk, auch wenn Klassementfahrer Primoz Roglic am Ende verletzt aufgeben musste. Direkt zu Beginn gewann man das Teamzeitfahren, so dass in der Gesamtwertung fröhlich durchgetauscht werden konnte. Robert Gesink durfte das Rote Trikot in seiner niederländischen Heimat zuerst tragen. Dann wechselte es auf die Schultern von Landsmann Mike Teunissen über Edoardo Affini bis hin zu Primoz Roglic. Ein klares Zeichen dafür, dass es stimmt in der Mannschaft Jumbo – Visma.
Nicht zu glauben: In Madrid bekam Richard Carapaz (Ineos Grenadiers) das Bergtrikot überreicht. Nach drei Etappensiegen darf der Ecuadorianer zufrieden sein mit seinem Auftritt, auch wenn er eigentlich mit Ambitionen auf den Gesamtsieg ins Rennen gegangen war. Kurios war jedoch, wie zuvor die Träger des Bergtrikots aus dem Rennen ausgeschieden sind. Der Monegasse Victor Langellotti (Burgos – BH) trug es bis zur achten Etappe, ehe er zu Fall kam und aufgeben musste. Es übernahm Jay Vine (Alpecin – Deceuninck). Der Australier gewann zwei Etappen und sah bereits wie der sichere Sieger aus. Doch dann erwischte es auch ihn: Sturz. Aufgabe! So bekam nun Richard Carapaz das Gepunktete überreicht – und gab es bis Madrid nicht mehr ab.