Spektrum: In diesem Jahr feierte mit Eddy Merckx einer der wohl größten Radsportler der Geschichte seinen 70. Geburtstag. In unserem heutigen Rückblick erinnern wir an die Tour 1975 – eigentlich sollte es für den Kannibalen der sechste Toursieg werden – doch dann kam alles anders.
Nach fünf Toursiegen (69,70,71,72,74) und einer vielversprechenden Frühjahrssaison mit Siegen bei der Flandern-Rundfahrt und Mailand-San Remo deutete alles darauf hin, dass der legendäre Eddy Merckx 1975 seinen insgesamt sechsten Toursieg einfahren würde und fortan allein auf dem Tourolymp thronen würde, den er sich momentan noch mit Jacques Anquetil teilte. Doch in Paris jubelte der Franzose Bernard Thévenet und auch in den folgenden Jahren sollte Eddy Merckx keine großen Siege mehr einfahren. Die Tour de France 1975 war der Anfang vom Ende einer der größten Radsportkarrieren aller Zeiten.
Was geschah also 1975? Eigentlich begann alles wie erwartet. Der Italiener Francesco Moser übernahm mit seinem Sieg beim Prolog das Maillot Jaune und behielt es bis zur sechsten Etappe – dem Zeitfahren in Merlin Plage, wo Merckx Moser 30 Sekunden abnahm und das Gelbe Trikot entriss. Alles lief nach Plan für den Belgier. Für viele Zuschauer und Experten war der sechste Tourerfolg für Merckx nur noch Formsache. Zu unbesiegbar schien seine Aura, zu stark hatte er sich bisher präsentiert.
Die Probleme begannen für Merckx am Ende der vierzehnten Etappe mit Ziel auf dem Gipfel des Puy de Dome. Auf den letzten Metern schlug einer der Zuschauer am Straßenrand dem damals 30 Jahre alten Belgier mit voller Wucht in den Magen. Merckx fuhr sichtlich benommen und angeschlagen weiter und beendete die Etappe – noch immer in Gelb, mit etwas weniger als einer Minute Vorsprung auf den Zweitplatzierten Thévenet.
Doch dieser Faustschlag sollte Merckx noch weiter beschäftigen und eine entscheidende Rolle bei seinem verpassten Sieg in Paris spielen. Die Attacke bereitete ihm nämlich auch in den folgenden Tagen große Probleme – denn bereits auf der folgenden Etappe nach Pra Loup sollte er das Gelbe Trikot verlieren. Nachdem Merckx seinen Konkurrenten Thévenet am Col d’Allos abgeschüttelt hatte, brach der Kannibale hingegen am finalen Anstieg hinauf zum Etappenziel komplett ein. Zwei Kilometer vor dem Ziel holte ihn Thévenet ein und konnte ihm drei Minuten abnehmen. Damit war Merckx das Gelbe Trikot los – er sollte es nie wieder tragen. In den folgenden Jahren beteuerte Merckx, sein Leistungseinbruch hätte mit den Schmerzmitteln zu tun gehabt, die er nach dem Faustschlag einnehmen musste.
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Thévenet ließ sich den Sieg nicht mehr nehmen – und als ob das alles nicht genug gewesen wäre, stürzte Merckx nach einer Kollision auch noch schwer und brach sich das Jochbein. Trotzdem beendete er die Tour – im Nachhinein bezeichnete er die damalige Entscheidung, entgegen dem Rat der Ärzte bis Paris weiterzumachen als „unglaublich dumm.“ Dennoch: So werden Legenden geschrieben.