Radsport: Kämpfe um Sekunden, Defekte, Favoritenstürze: Der Giro d´Italia 2015 ist ein spektakuläres Rennen – und scheint doch bereits entschieden. Velomotion zieht ein Zwischenfazit.
Vor der entscheidenden dritten Woche des Giro d´Italia spricht alles für einen Sieg des großen Favoriten Aberto Contador (Tinkoff-Saxo). Der Madrilene stand mit der erwarteten Topform an der Startlinie des Giro in San Lorenzo al Mare und hat in den vergangenen beiden Wochen auf nahezu jedem Terrain geglänzt. Auch von Stürzen ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Mit 2 Minuten und 35 Sekunden hat er bereits einen soliden Vorsprung auf den Zweitplatzierten Fabio Aru (Astana) herausgefahren. Contador könnte sich darauf beschränken, sein Zeitpolster in der anstrengenden dritten Woche zu verteidigen und mit Blick auf sein angestrebtes Giro-Tour-Double auf eigene kraftraubende Attacken zu verzichten. Doch eine solche Buchhalter-Mentalität passt nicht recht zum angriffslustigen Spanier. Immer wieder attackierte er in den vergangenen beiden Wochen und setzte seine Gegner mit Angriffen in Abetone, Imola und Vicenza unter Zugzwang. Mehrfach luchste Contador seinen Kontrahenten auch Sekunden ab, indem er bei Zwischensprints mitmischte und sich Zeitbonifikationen sicherte.
Aus der Riege der Topfavoriten zeigte nur Fabio Aru eine ähnlich offensive Fahrweise. In La Spezia, Campitello Matese und San Giorgio de Sannio attackierte der Astana-Kapitän und zwang Contador zu ständigen Reaktionen und erhöhter Aufmerksamkeit. Begünstigt durch einen Massensturz, in den Contador auf der Etappe nach Jesolo verwickelt war, schaffte Aru gar das Kunststück, dem Spanier das Rosa Trikot abzunehmen. Die Freude währte jedoch nur kurz: Bereits am Folgetag zerlegte Contador im Zeitfahren von Valdobbiadene die Gesamtklassements-Konkurrenz und streifte als Tagesdritter die Maglia Rosa wieder über. Waren die Abstände an der Spitze bis dato ein heißer Kampf um Sekunden, steht Aru nun vor der schwierigen Aufgabe über zweieinhalb Minuten aufholen zu müssen.
Das große Favoritensterben
Hinter den beiden Spitzenreitern Contador und Aru zerplatzten hingegen reihenweise die Träume der weiteren Favoriten. Am schlimmsten erwischte es Domenico Pozzovivo (AG2R), der nach einem fürchterlichen Sturz auf der dritten Etappe ausschied. Rigoberto Urán (Etixx-Quick Step) ist in diesem Jahr nicht in der gleichen Form wie 2013 und 2014, als er zu den Protagonisten des Giro gehörte, das Rosa Trikot trug und jeweils Zweiter in der Endabrechnung wurde. Bereits in La Spezia konnte er dem Tempo der Spitzengruppe nicht folgen und ließ seither mit Ausnahme der Bergankunft in Campitello Matese bei allen entscheidenden Etappen weiter Federn – auch in seiner Paradedisziplin, dem Zeitfahren. Richie Porte (Team Sky) lag lange Zeit aussichtsreich im Rennen und bestätigte seinen Favoritenstatus. Mit Contador, Aru und dem erstaunlichen Mikel Landa (Astana) schien Porte zu den stärksten Fahrern des diesjährigen Giro zu gehören. Mit nur 22 Sekunden Rückstand rangierte er auf Rang drei und schmiedete wohl Angriffspläne für Zeitfahren und Hochgebirge. Doch dann verlor er zunächst Zeit durch einen Defekt und bekam zudem wegen unerlaubter, teamübergreifender Hilfestellung noch zwei Minuten Zeitstrafe aufgebrummt. Durch den Massensturz in Jesolo kamen weitere Minuten hinzu, und die aussichtslose Position scheint sich auf die Motivation des kleinen Australiers ausgewirkt zu haben: Im Zeitfahren und bei der Bergankunft in Madonna di Campiglio war Porte chancenlos und rangiert mittlerweile auf Gesamtrang 27 mit über 35 Minuten Rückstand auf Alberto Contador.
Neue Protagonisten
Die Entdeckung des diesjährigen Giro ist Mikel Landa. Der Teamkollege von Fabio Aru gewann nicht nur die Etappe nach Madonna di Campiglio, sondern rangiert auch in der Gesamtwertung auf Rang vier mit 4 Minuten 46 Sekunden Rückstand. Das Team Astana versetzt dies in die komfortable Position, Contador mit zwei Fahrern angreifen zu können. In Richtung Madonna di Campiglio funktionierte dies jedoch nicht, da Landa mit seinen Tempoverschärfungen und Attacken vielmehr den eigenen Kapitän Aru in große Bedrängnis brachte. Contadors Konterattacke fehlte die Kraft, sonst hätte ein erheblicher Zeitverlust Arus innerhalb des Teams Astana wohl für dicke Luft gesorgt. Neben dem Spanier Landa überzeugt auch Audrey Amador (Movistar) aus Costa Rica. Er ist derzeit auf Rang drei platziert. Wie Landa hat er in der Vergangenheit bei großen Landesrundfahrten noch kein Top-Ergebnis einfahren können. Bei der Spanienrundfahrt 2014 wurde Amador 30., Landa war 28. Amadors bestes Ergebnis bei einer dreiwöchigen Rundfahrt ist Rang 29 beim Giro 2012, wo er auch die Etappe nach Cervinia gewann. Zu gerne würde er dort wohl auch am kommenden Freitag triumphieren, doch Amador und Landa müssen erst noch zeigen, dass sie in der dritten Giro-Woche ihr Niveau halten können. Denn von hinten naht der Tscheche Leopold König (Team Sky). Der letztjährige Siebte der Tour de France ist nach Portes Zurückfallen der Mann für´s Gesamtklassement beim Team Sky. Das Podium in Mailand ist in Reichweite für den ehemaligen NetApp-Fahrer. Derweil bestätigt der junge Davide Formolo (Team Cannondale) seinen Status als große Nachwuchshoffnung: Als derzeit 21. der Gesamtwertung schlägt sich der 22-jährige bei seinem Grand-Tour-Debüt sehr achtbar und hat bereits die Etappe nach La Spezia gewonnen.
Spannende Kämpfe in Woche drei
Was erwartet uns also in der dritten Woche des Giro d´Italia? Der Rundfahrtsieg scheint eine Angelegenheit zwischen Contador und Aru zu werden mit deutlichen Vorteilen für den Spanier. Doch die Stärke Astanas könnte – sofern es keine Unstimmigkeiten zwischen Aru und Landa gibt – eine Hypothek für Contador sein. In Richtung Madonna di Campiglio war er früh von seinen Tinkoff-Saxo-Teamkollegen isoliert und musste sich gegen die Astana-Übermacht behaupten. Zudem zeigen die Beispiele Pozzovivo und Porte deutlich, wie schnell alle Träume zerplatzen können. Trotzdem ist es sehr wahrscheinlich, dass der Sieger in Mailand Alberto Contador heißen wird. Spannend wird der Kampf ums Podium, wo erfahrene Männer wie König, Yuri Trofimov (Katusha) und auch Maxime Monfort (Lotto-Soudal) gerne noch ein Wörtchen mitreden möchten. Die schweren Berge der letzten Giro-Woche – allen voran der Mortirolo am Dienstag – werden die Bühne darstellen für großartige Kämpfe zwischen den Fahrern.