Radsport: Das älteste Team der Welt will mit Nairo Quintana die Tour de France gewinnen. Wenige Tage vor dem Start blickte Velomotion hinter die Kulissen.
Eusebio Unzué, der Inhaber des Movistar-Rennstalls, ist ein Mann, der eine seltene, stilvolle Eleganz und Noblesse ausstrahlt – ein Mann von Welt, weit gereist und zugleich tief in seiner Heimatregion Navarra in Nordspanien verwurzelt. Bei einem Abendessen mit Sponsoren und Journalisten hält er aus dem Stegreif eine Rede. Er freue sich aufrichtig über das Interesse am Team Movistar, dieses sei eine persönliche Herzensangelegenheit von ihm. Unzué dankt seinem Radsponsor, der zur Präsentation eines neuen Modells in die Team-Zentrale nach Pamplona eingeladen hat. Das habe bisher noch niemand gemacht. Es ist kaum vorstellbar, dass Unzué im Kontext Radsport etwas noch nicht erlebt hat. Seit 1980 leitet er das Team, das unter den Sponsorennamen Reynolds, Banesto, Illes Balears, Caisse d´Epargne und jetzt Movistar Radsportgeschichte geschrieben hat. In der Saison 2014 feierte man 35-jähriges Rennjubiläum. Damit ist Unzués Mannschaft das älteste Profiradsport-Team der Welt.
Bekannt geworden sind die Teams von Eusebio Unzué durch nicht weniger als sieben Siege bei der Tour de France: Pedro Delgado 1988, Miguel Indurain 1991-1995 und Oscar Pereiro 2006. In das helle Licht der Team-Historie mischen sich aber auch Schatten: Delgado war bei seinem Tour-Sieg 1988 positiv auf Probenecid – ein Mittel, das Anabolika-Missbrauch verschleiern kann. 15 Tage nach Ende des Rennens wurde es von der UCI auf die Liste der verbotenen Substanzen genommen. Miguel Indurain war 1994 nach einem positiven Test in eine Diskussion über das Asthmamittel Salbutamol verstrickt. Und einer der langjährigen Leistungsträger des Teams – Alejandro Valverde – saß eine Sperre wegen Verwicklung in die Fuentes-Affäre ab. Angesichts dessen, was mittlerweile über die Praktiken innerhalb des Pelotons in den 1990er und 2000er Jahren bekannt ist, bewegten sich Unzués Teams im Rahmen des Üblichen. Ob das Fahrerfeld heute – wie vielfach beschworen – sauberer unterwegs ist, ist kaum einschätzbar.
Klar ist: Geht es nach Unzué und seinem technischen Direktor Alfonso Galilea, soll in den kommenden Wochen Tour-Sieg Nummer acht eingefahren werden. Movistar setzt dabei auf den kleinen Kolumbianer Nairo Quintana, der 2013 als Gesamtzweiter in Paris ankam, mit einem Etappensieg und zwei Wertungstrikots im Gepäck. Dass er eine dreiwöchige Rundfahrt gewinnen kann, bewies Quintana mit seinem Giro-Sieg 2014. Die diesjährige Tour mit ihren vielen Anstiegen ist dem Kletterspezialisten auf den Leib geschneidert. Bevor es aber in die Berge geht, muss er schadlos die windanfälligen Flachetappen und Kopfsteinpflasterabschnitte der ersten Tour-Woche überstehen. Im Gespräch mit Velomotion verbreitet Quintana Zuversicht: „Ich habe keine Angst vor diesen Etappen. Die Tour ist für alle Fahrer gleich schwer. Auch meine Konkurrenten können auf dem Pflaster viel Zeit verlieren. Wenn ich gewinnen will, muss ich auf jedem Terrain gut unterwegs sein.“ Alfonso Galilea sieht das nicht so gelassen: „Das Kopfsteinpflaster gehört zu Paris-Roubaix. In der Tour de France hat es nichts verloren. Das ist eine hochgradig gefährliche Etappe. Wir bereiten uns ein Jahr akribisch auf die Tour vor. Durch so eine Streckenführung kann in einer Sekunde alles dahin sein.“ Wie dann die Strategie von Movistar für die 4. Etappe aussehe? „Überleben. Und beten, dass es nicht regnet.“
Solche markanten Aussagen sind nicht die Sache von Nairo Quintana. Der 25-Jährige ist ruhig und zurückhaltend. Im persönlichen Gespräch wie bei Fragen in der Pressekonferenz antwortet er kurz, häufig nichtssagend. Er beobachtet, orientiert sich an seinem Übersetzer, scheint PR-Aufgaben als notwendiges Übel über sich ergehen zu lassen. Einen Hauptkonkurrenten könne er nicht ausmachen, alle führen auf einem starken Niveau. Ja, er fühle sich gut vorbereitet. Mit seinem Material sei er zufrieden, das neue Rad sei angenehm steif. An Nairo Quintana kann man sich die Zähne ausbeißen. So kommt es, dass er im Interview der Zeitschrift TOUR kategorisch verneint, ein politischer Mensch zu sein, während das jüngste Porträt in der Procycling seine diversen sozialen und gesellschaftspolitischen Aktivitäten betont. Quintana, der Ungreifbare.
Wer ihn auf dem Rennrad erlebt, wird Zeuge einer erstaunlichen Wandlung. Quintana wirkt gelöst, befreit, scherzt mit Teamkollegen und Sponsoren. Allein dass er an der gemeinsamen Trainingsfahrt mit Journalisten teilnimmt, treibt Alfonso Galilea den Schweiß auf die Stirn: „Leute, keine riskanten Fahrmanöver, keine Selfies. Wir stehen anderthalb Wochen vor der Tour.“ Ironischerweise sind es gerade die Movistar-Profis, die Selfies machen und den Journalisten anbieten, mit ihren Handys Fotos zu schießen. Und Nairo Quintana ist mittendrin, delegiert das gesamte Feld, als ein Auto auf schmaler Straße überholen möchte, zeigt auf einmal eine Präsenz, die vorher undenkbar schien. Auf dem Rennrad ist er in seinem Element. Deutlich offener erscheint er aber auch, wenn er auf Menschen trifft, denen er sich verbunden fühlt. Bei einer Pause verwickelt er den Besitzer eines fahrbaren Kiosks in ein längeres Gespräch – einen kleinen Mann aus dem Volk, wie Quintana selbst.
Quintana stammt aus einfachen Verhältnissen auf dem Land. Seine Familie lebte vom Obst- und Gemüseverkauf. Jede Saison kehrt er nach einer ersten Rennphase in Europa nach Kolumbien zurück, um in Tunja auf 2.800 Metern Höhe zu trainieren. „Diese Zeit in Kolumbien ist sehr wichtig für Nairo“, sagt Alfonso Galilea. „Er ist bei der Familie, entspannt, sammelt sich für die anstehenden Aufgaben und kommt immer in Top-Verfassung zurück. Dabei hilft natürlich das Höhentraining.“ In Kolumbien ist Quintana spätestens seit seinem Sieg beim Giro d´Italia im Vorjahr ein Star. „Wenn ihn die Leute beim Training erkennen, jubeln sie und grüßen, wünschen ihm viel Erfolg für die Rennen“, erzählt Galilea. „An schmalen Straßen, wenn sich Autoschlangen bilden, weil man nicht überholen kann, werden die Leute sauer. Wenn sie aber merken, dass es Nairo ist, hinter dem sie da herfahren, halten sie an, machen Fotos, wie er vorbeifährt und reihen sich wieder in die Schlange ein. Diese Unterstützung aus der Heimat ist eine ganz besondere, zusätzliche Motivation.“
Nach der gemeinsamen Trainingsausfahrt sitzt Nairo Quintana auf der Treppe des Movistar-Trucks. Er scheint fokussiert, bereit für die anstehende Aufgabe. „Die Tour de France ist eines unserer wichtigsten Rennen“, bestätigt Galilea, „das sind solche Emotionen, die kann man fast nicht in Worte fassen. Anspannung, Vorfreude, Stress… Du hast quasi keine ruhige Minute, um zu entspannen und auch keine Muße, um zu genießen. Und doch genießt du das Spektakel. Du ziehst so viel aus den Zuschauermassen am Straßenrand, aus der Begeisterung, die dir entgegenschlägt. Ich freue mich, wenn es endlich losgeht!“
Im Materiallager von Movistar stapeln sich die Pokale. Eine weiterer Erfolg soll in drei Wochen dazu kommen: der erste Sieg eines Kolumbianers bei der Tour de France, der achte Sieg für einen Fahrer aus Eusebio Unzués Mannschaften.