Radsport: Einmal die Tour de France zu fahren ist der Traum eines jeden angehenden Radprofis. Doch für die etablierten Fahrer im Peloton ist dabei sein nicht alles. Es geht um Ergebnisse. Die diesjährige Austragung der Frankreich-Rundfahrt wird einige enttäuschte Athleten zurücklassen. Selten haben so viele Stars als Ziel den Gesamtsieg, das Podium oder die Top 10 ausgerufen. Wir konnten sechs Topfavoriten ausfindig machen – doch es gibt viele weitere Anwärter auf eine gute Platzierung in Paris.
Vincenzo Nibali (Bahrain-Merida)
Seit das Team Sky bei der Tour de France 2012 das Zepter in die Hand genommen hat, gab es nur noch Gesamtsieger dieser Mannschaft – bis auf eine einzige Ausnahme. Im Jahr 2014 musste Chris Froome verletzt die Frankreich-Rundfahrt beenden, so dass der Kampf um das Gelbe Trikot plötzlich wieder offen war. Vincenzo Nibali nutzte seine Chance und komplettierte sein Set der Grand Tour Siege. Der Hai von Messina ist an Zuverlässigkeit kaum zu übertreffen. Seit 2009 beendete er 14 große Landesrundfahrten, 13 Mal landete er unter den ersten sieben – eine schier unglaubliche Statistik. Kein Wunder, dass die Experten den Italiener auch in diesem Jahr wieder auf der Rechnung haben. Wie gut die Form ist? Wir wissen es nicht. Doch Vincenzo Nibali ließ den Giro d’Italia sausen, um Topfit zur Tour de France zu erscheinen. Die Top 10 sind fest gebucht, doch natürlich möchte der erfolgsverwöhnte Kletterer mindestens aufs Podium.
Alejandro Valverde (Movistar)
Vermutlich ist Alejandro Valverde – natürlich neben Hattrick-Weltmeister Peter Sagan – der beste Fahrer der letzten 20 Jahre. Es gibt kaum ein Rennen, welches seinen Fähigkeiten entspricht, das er noch nicht gewinnen konnte. Doch über drei Wochen hinweg gab es fast immer einen besseren. 22 Mal stand Valverde am Start einer Grand Tour, 16 Mal fuhr er unter die ersten acht – doch einen Gesamtsieg durfte er nur 2009 bei der Vuelta a Espana feiern. Mittlerweile ist Balaverde – wie ihn seine Fans gerne rufen – 38 Jahre alt. Es ist davon auszugehen, dass der Spanier bald seine Karriere beenden wird und trotz einer wahnsinnig erfolgreichen Zeit nie die Tour de France gewinnen konnte. Ändern wird sich das wohl auch nicht in diesem Jahr. Denn Valverde ist ein Teamplayer und er weiß, dass in seiner Mannschaft zwei Fahrer stehen, die noch stärker sind als er: Mikel Landa und Nairo Quintana. Daher ist davon auszugehen, dass er sich in den Dienst seiner Kollegen stellt, selbst in die Top 10 fahren kann und sich eine Etappe sichern möchte. Oder kann uns der Rad-Opa 2018 alle überraschen und seine herausragende Karriere krönen?
Geraint Thomas (Sky)
In den vergangenen sechs Jahren gewann das Team Sky fünfmal die Tour de France. So soll es auch diesmal sein. Da eine Disqualifikation von Chris Froome oder gar eine Starterlaubnis zu befürchten ist, schickt die britische Equipe einfach mehrere Potentielle Gesamtsieger ins Rennen. Nach den Abgängen von Richie Porte und Mikel Landa genießt nun Geraint Thomas die Position direkt hinter Kapitän Froome. Der Brite gewann das Critérium du Dauphiné und präsentierte sich als gereifter Klassementfahrer. Bislang konnte er seine Stärke zwar noch nicht über einen Zeitraum von drei Wochen unter Beweis stellen, doch das war selten seine Schuld. Schließlich war Thomas in seiner Karriere fast ausnahmslos als Helfer aktiv. Ändert sich seine Rolle, ändern sich vielleicht auch seine Resultate. Im Zeitfahren gehört er bereits zu den Besten und in den Bergen scheint er auf dem Weg dorthin zu sein. Mit Geraint Thomas sollte man definitiv rechnen – das weiß auch Chris Froome.
Wout Poels (Sky)
Die Teams Movistar und Sky sind zweifelsohne die stärksten im Peloton. Vielleicht wurden bei der Tour de France noch nie zuvor zwei solche in den Bergen starke Teams aufgestellt. Während Movistar auf Alejandro Valverde, Nairo Quintana und Mikel Landa bauen kann, kontert Sky mit Chris Froome, Geraint Thomas und Wout Poels. Vor allem der zuletzt genannte Profi hat sich den Respekt in den vergangenen Monaten verdient. An der Seite von Chris Froome fungierte er als Edelhelfer bei dessen Vuelta- und Giro-Sieg. Nicht selten hatten die Zuschauer den Eindruck, dass Wout Poels eigentlich noch schneller fahren könnte. Bilder, die an Bradley Wiggins und Chris Froome 2012 erinnerten. Doch Poels hielt sich bis dato zurück. Dies könnte sich nun ändern, sollte die Kapitänsrolle bei der diesjährigen Tour de France plötzlich doch wieder frei werden. Allerdings hat Wout Poels gegenüber Geraint Thomas deutlich das Nachsehen, wenn es in den Kampf gegen die Uhr geht.
Egan Bernal (Sky)
Eigentlich ist es verrückt, einen Fahrer in die Favoritenliste mit aufzunehmen, wenn dieser zuvor noch nie eine dreiwöchige Rundfahrt bestritten hat. Doch bei Egan Bernal müssen wir eine Ausnahme machen. Der erst 21-jährige Kolumbianer hat einen steilen Aufstieg hinter sich. In seiner ersten Profisaison gewann er direkt die Kolumbien-Rundfahrt und die Tour of California. Vier Tagessiege kommen hinzu. Neben den Top-Ergebnissen wusste der schmächtige Kletterer vor allem mit seiner Art und Weise zu überzeugen. Er offenbarte kaum Schwächen, ist für seinen Körperbau selbst im Zeitfahren in der Lage, gute Resultate einzufahren. Wenn Egan Bernal mit seinen 21 Jahren in der Lage ist, während der harten drei Wochen gut zu regenerieren, und wenn er die neunte Etappe nach Roubaix gut übersteht, dann könnte er die ganz große Sensation schaffen. Sehr wahrscheinlich ist dieses Märchen jedoch nicht. Es fehlt ihm einfach an Erfahrung. Außerdem hat er in seiner Mannschaft drei Teamkameraden, die in der Hierarchie doch noch deutlich vor ihm stehen. Aber Träumen ist nicht verboten.
Rigoberto Uran (EF Education)
Einer der großen Gewinner des Jahres 2017 war zweifelsohne Rigoberto Uran. Nach vielen schlechten Resultaten kam er bei der Tour de France plötzlich wie Phönix aus der Asche. Sein zweiter Gesamtrang überraschte sogar ihn selbst. Dennoch wird er bei der diesjährigen Frankreich-Rundfahrt als Top-Favorit meist vergessen. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass er in seiner Karriere bereits viele Ups and Downs hatte. Nach seiner starken Vorstellung bei der Tour de France gewann er zwar noch das Eintagesrennen Mailand-Turin, doch bis heute warten seine Fans auf die Bestätigung seiner Stärke. Selbst die Generalprobe in Slowenien glückte nicht wirklich. Am Ende wurde er zwar Gesamtzweiter, doch hatte knapp zwei Minuten Rückstand auf Primoz Roglic. Es sieht fast danach aus, als hätte er seinen guten Flow verloren – doch genau das dachten wir auch vor rund zwölf Monaten.
Adam Yates (Mitchelton-Scott)
Yates? Schon wieder? Richtig und falsch, denn bei diesem Yates hier handelt es sich um Adam und nicht um Simon. Während Simon Yates beim Giro d’Italia schon wie der sichere Sieger aussah, bereitete sich sein Zwillingsbruder Adam auf die Tour de France vor. Er wurde Vierter bei der Tour of California und Zweiter beim Critérium du Dauphiné. Allgemein kann Adam Yates insgesamt betrachtet sogar noch bessere Ergebnisse vorweisen als Zwillingsbruder Simon. Nicht wenige Experten sind der Meinung, dass Adam der bessere Yates sei. Gezeigt hat er sein Können auch schon bei dreiwöchigen Landesrundfahrten. Schließlich wurde er vor zwei Jahren schon Vierter der Tour de France. Logisch, dass er nun das Podium angreifen möchte. Gerade die Etappen nach Mende und zur Mur-de-Bretagne liegen ihm perfekt. Je kürzer, giftiger und ungleichmäßiger die Anstiege sind, desto wohler fühlt sich Adam Yates.
Jakob Fuglsang (Astana)
Das Team Astana musste im Winter seinen stärksten Klassementfahrer ziehen lassen: Fabio Aru wechselte zur Mannschaft UAE. Viel zu spät erfuhren die Teamleiter von diesem Vorhaben, so dass sie keinen Ersatz mehr unter Vertrag nehmen konnten. Dennoch hat sich der Aderlass bislang nicht auf die Resultate ausgewirkt, denn Astana zählt zu den erfolgreichsten Mannschaften der Saison. Auch in Sachen Gesamtwertungen haben sie mit Jakob Fuglsang jemanden in den eigenen Reihen gefunden, der die Lücke zu Aru schließen konnte. Er fuhr bei der Tour de Romandie auf die #4 und bei der Tour de Suisse auf die #2. Ohnehin gilt Jakob Fuglsang schon seit Jahren als starker Rundfahrer. Bei einer Grand Tour lief es für ihn jedoch selten gut. Nur 2013 kam er bei der Tour de France in die Top 10. Jetzt spürt er den Rückhalt der ganzen Mannschaft – und visiert das Podium an.
Primoz Roglic (LottoNL-Jumbo)
„Primoz Roglic springt aufs Treppchen“ … „Primoz Roglic fliegt allen davon“ … „Primoz Roglic will hoch hinaus“ … viele Wortspiele wurden mit dem Namen des ehemaligen Skispringers in den vergangenen zwei Jahren gemacht. Auch wenn es an der Kreativität der Journalisten mangelt, wird er selbst über die Berichte hoch erfreut sein. Schließlich wurde über Roglic fast ausschließlich positiv berichtet. Denn ohne Zweifel ist der Slowene ein Kandidat für einen großen Rundfahrtssieg. Doch bislang hat er seine stärkste Leistung eher bei einwöchigen Rundfahrten abgerufen. Er gewann allein in dieser Saison die Baskenland-Rundfahrt, die Tour de Romandie und die Slowenien-Rundfahrt. Kann er jetzt den nächsten Schritt machen?
Daniel Martin (UAE Team Emirates)
Es kommt äußerst selten vor, dass ein Fahrertyp wie Daniel Martin bei einer Grand Tour auf dem Podium landet. Obwohl er in den Bergen meist zu den stärksten gehört, liegt er am Ende oft weit zurück. Der Grund dafür ist seine große Schwäche im Kampf gegen die Uhr. Daniel Martin ist ein begnadeter Kletterer. Er pflegt einen offensiven Fahrstil und ist im Sprint bergan nur schwer zu bezwingen. Doch setzt man den Iren auf ein Zeitfahrrad, verliert er Sekunde um Sekunde auf die Konkurrenz. Dies wird sich in seinem fortgeschrittenen Alter vermutlich auch nicht mehr ändern. Dennoch darf man ihn nicht unterschätzen. Gibt man Daniel Martin zu viele Freiräume, kann er durchaus gefährlich werden. In die Top 10 hat er es schließlich schon geschafft und es gibt wohl nur wenige Radsportfans, welche ihm keinen Podiumsplatz gönnen würden.
Ilnur Zakarin (Katusha-Alpecin)
Wie gut ist Ilnur Zakarin wirklich? Diese Frage stellt sich der Russe vielleicht sogar selbst. Immer wieder lässt der mittlerweile 28-Jährige sein Können aufblitzen. Doch den letzten Schritt ist er noch nicht gegangen. Jetzt, wo er sich im besten Radsport-Alter befindet, erwarten viele Experten den endgültigen Durchbruch zu einem absolut siegfähigen Klassementfahrer. Im vergangenen Jahr hat er dafür bereits Anlauf geholt. Beim Giro d’Italia fuhr er auf Rang fünf, bei der Vuelta a Espana auf Platz drei. In dieser Saison verzichtete er auf die Italien-Rundfahrt, um topfit zur Tour de France zu kommen. Gute Resultate im Jahr 2018 suchen wir jedoch bislang vergeblich. Beim Critérium du Dauphiné fuhr er völlig chancenlos nur auf Rang zehn. Zu wenig, um bei der Tour de France selbiges Resultat einfahren zu können – zumal der ambitionierte Russe damit wohl kaum zufrieden wäre.
Bauke Mollema (Trek-Segafredo)
Es war bitter mit anzusehen, wie Bauke Mollema vor zwei Jahren bei der Tour de France am Podium vorbeischrammte. Der Niederländer war so stark, lag sogar auf Rang zwei in der Gesamtwertung. Doch ein Sturz auf der drittletzten Etappe zerstörte all seine Träume. Bauke Mollema flog zurück auf Rang elf, schüttelte sich einmal kurz und gewann nach der Tour de France die Clasica San Sebastian souverän als Solist. Jetzt bekommt er eine zweite Chance. Bei seiner achten Tour de France Teilnahme visiert er erneut das Podium an. Ihm kommt es zugute, dass nicht allzu viele Zeitfahr-Kilometer zu absolvieren sind. Übersteht er die Etappe nach Roubaix, ist fest mit ihm zu rechnen, auch wenn er in dieser Saison bislang wenig gute Resultate einfahren konnte.
Bob Jungels (Quick-Step Floors)
Luxemburg ist eine Radsport-Nation. Nur kurz nach der Ära der Schleck-Brüder trat Bob Jungels ins Rampenlicht. Der mehrfache Luxemburgische Meister ist schwer in eine Schublade zu stecken. Klar ist, dass Bob Jungels ein exzellenter Zeitfahrer ist und auch gut bergauf kommt. In den Gesamtwertungen der Gand Tours hat sich seine Stärke bis heute aber noch nicht wirklich gezeigt. Beim Giro d’Italia fuhr er zweimal in die Top 10, doch am Podium schnuppern durfte er noch nie. Jetzt wird er zum zweiten Mal die Tour de France bestreiten. Durch den Wechsel von Daniel Martin darf er sich der Kapitänsrolle in der Mannschaft sicher sein – zumindest in den Bergen. Denn das Team Quick-Step Floors hat mit Fernando Gaviria auch noch einen Top-Sprinter in den eigenen Reihen. Auf viel Unterstützung darf sich Bob Jungels also nicht freuen.
Rafal Majka (Bora-hansgrohe)
Rafal Majka gehört zu den beliebtesten Fahrern. Der Pole wirkt meist locker und cool, was an der Seite von Peter Sagan gar nicht so einfach ist. Doch die beiden verstehen sich gut und sind zuvor auch schon im Team Tinkoff-Saxo zusammen auf Etappenjagd gegangen. Genau dies möchte Rafal Majka aber ändern. Schluss mit Etappensiegen und dem Bergtrikot. Der Pole möchte mehr. Nach drei Top 10 Resultaten beim Giro d’Italia soll es nun auch endlich bei der Tour de France klappen. Das Potential dafür ist vorhanden, auch wenn Majka im Zeitfahren viel Zeit einbüßen wird. Der angriffslustige Kletterer hat mehrfach bewiesen, dass er in der Lage ist, ein Feld komplett auf den Kopf zu stellen. Doch in den vergangenen Monaten befindet er sich in einem kleinen Formtief. Zuletzt fuhr er in Kalifornien und Slowenien nur hinterher.
Guillaume Martin (Wanty-Groupe Gobert)
Zählt man die Tour de France Kandidaten für die Top 10 auf, darf Guillaume Martin nicht fehlen. Der Franzose gilt in seinem Heimatland längst als Mega-Talent und als möglicher künftiger Sieger der Tour de France. In den internationalen Medien ist dies noch längst nicht angekommen, doch es gibt einen Grund, warum die Mannschaft Wanty-Groupe Gobert eine Wildcard erhalten hat. Viele Franzosen trauen ihm zu, die Top 10 zu knacken und in den kommenden Jahren vorn mitzufahren. Wir auch, denn sonst hätten wir ihn kaum zu unseren 5 to watch aufgenommen. Außer seinem Sieg bei der Circuit de la Sarthe spricht jedoch wenig für ihn. Im Jahr 2018 tut sich Guillaume Martin äußerst schwer. Dabei muss er sich überhaupt nicht verstecken. Der 25-Jährige fuhr im vergangenen Jahr auf Rang #23 der Tour de France. Auch wenn er beim Zeitfahren seine Schwächen hat, kann er in den Bergen mit den Besten mithalten. Mit etwas Glück und einer guten Form kann Guillaume Martin um einen Platz in den Top 10 mitfahren.
Pierre Latour (AG2R La Mondiale)
Im Team AG2R La Mondiale gilt Romain Bardet als klarer Kapitän. Der Dritte der vergangenen Austragung und der Zweite ein Jahr zuvor möchte endlich die Grand Boucle gewinnen. Diesem Ziel hat sich die ganze Mannschaft zu unterwerfen, auch Pierre Latour. Der 24-jährige Franzose hat noch seine ganze Karriere vor sich. Sicher wird man eines Tages für ihn fahren. Bei der Tour de France 2018 wird Pierre Latour noch den Helfer mimen, doch die Teamleitung ist intelligent genug, um ihn dennoch gut zu platzieren. Denn bei Latour verhält es sich ähnlich, wie bei Kelderman: Fällt der Leader aus, rückt der Edelhelfer nach. Dass Pierre Latour einer solchen Aufgabe gewachsen wäre, hat er nun schon mehrfach bewiesen. Allein in dieser Saison fuhr er bei der Katalonien-Rundfahrt auf Rang drei, bei der Tour de Romandie auf acht und beim Critérium du Dauphiné auf sieben. Durchaus möglich also, dass wir eine starke AG2R-Doppelspitze sehen werden – es wäre nicht das erste Mal.