Test: Was kann die zweite Generation von Vittorias Graphen-Rennreifen?
An einem Tag mit Dauerregen und Graupelschauern scheint feine Baumwolle nicht gerade die richtige Wahl zu sein – auch nicht am Rennrad. Wenn dann auch noch rund 140 Kilometer in den Ardennen anstehen, fällt die Wahl eher auf schwere Reifen mit maximalem Pannenschutz, doch bei Ridley sah man das offensichtlich anders. An unserem Testrad, dem neuen Noah SL, fanden sich schnell und fragil anmutende Reifen in schönem Beige: die neuen Corsa Graphene 2.0 des italienischen Anbieters Vittoria. Also stellten wir uns mit mehreren Ersatzschläuchen, selbstklebenden Flicken und Pumpe schon mal auf den einen oder anderen Defekt ein und rollten in den stärker werdenden Regen, wobei wir anfangs immer wieder mit den behandschuhten Fingern über die Lauffläche strichen, um gefährliche Fremdkörper rechtzeitig abzustreifen.
Der Regen wurde stärker, und im dichten Feld schien es uns besser, beide Hände am Lenker zu lassen zumal ein Überholmanöver aufs nächste folgte. Denn die Kombination aus Aero-Rennmaschine und Baumwollreifen war außerordentlich schnell – ob es eher am Luft- oder am Rollwiderstand lag, sei dahingestellt. Die Angst, plattzufahren, wich einem schmerzhaften Kälteempfinden an Rumpf und Händen – keine optimalen Voraussetzungen für schnelle, kurvige Abfahrten auf teils schlechtem Asphalt, wo man feinfühlig bremsen können muss. Oder auch nicht – wo sich die Ridley-Rennmaschine im Flachen schnell und geschmeidig angefühlt hatte, vermittelte sie bergab ein Gefühl enormer Sicherheit. Mit ausgewogener Rahmengeometrie und berechenbaren Campagnolo-Scheibenbremsen stimmte einerseits die Hardware; doch was wirklich Sicherheit vermittelt, sind nun einmal die Reifen. Und im belgischen Dauerregen zeigte die verbesserte Gummimischung mit dem revolutionären Material Graphen ihr ganzes Können: Das italienische Gummi erwies sich als enorm haftstark unter Bedingungen, wie sie ungünstiger kaum sein könnten. Unter der Hand lobt übrigens auch die Konkurrenz den Grip von Vittorias Compound, was wirklich etwas heißen will.
Graphen – was ist das nochmal? Vorstellen muss man sich das neue Wundermaterial wohl wie eine Folie aus wabenförmig angeordneten Kohlenstoffatomen – eine hauchdünne, zweidimensionale Struktur, denn die Schicht ist nur ein Atom dick. Wie feine Netze sollen die Graphen-Schichten dem Reifengummi Festigkeit geben und seine mechanischen Eigenschaften verbessern: So soll der Pneu sich besser am Asphalt festbeißen können, und auch der Pannenschutz soll höher sein, da die Graphen-Struktur Fremdkörpern das Eindringen erschwert. An anderer Stelle macht das Molekülgitter Gummibänder reißfester und die Gummisohlen von Laufschuhen immun gegen Abrieb.
Gegenüber den 2017 vorgestellten „G+“-Reifen soll das Kohlenstoffmaterial beim Graphene 2.0 nun noch zielgenauer angewandt worden sein, sodass bestimmte Eigenschaften eines Reifens hervorgehoben werden können. Inwieweit der Vittoria Corsa Graphene 2.0 seinen Vorläufer übertrifft, lässt sich nur schwer sagen; in der Praxis lässt er jedenfalls keine Wünsche offen. Auch auf heimatlichen Straßen erfreut er mit dem geschmeidigem Rollverhalten der feinen Baumwollkarkasse; nach etlichen Trainingskilometern zeigen die Laufflächen von Vorder- wie Hinterreifen keinerlei feine Schnitte. Und auch auf trockener Straße haftet der Reifen extrem gut.
All das spricht für den Vittoria Corsa Graphene 2.0, der in 25 mm Nennbreite ganz knapp über 250 Gramm wiegt und auf DT-Felgen mit 18 mm Maulweite knapp 27 mm breit wird. Montage und Demontage gehen einfach von der Hand, auch wenn der Reifen im Neuzustand wie ein flaches Band erscheint. Und auch der hellbeige Farbton gefällt, wobei der Reifen auch in Schwarz verfügbar ist – die Tubeless-Version ist nur in Schwarz erhältlich. Laut Vittoria liegt das daran, dass die „Para sidewall“ derzeit noch nicht mit der luftdichten Innenschicht abgedichtet werden kann; vom Versuch, den regulären Corsa tubeless zu fahren, wird dringend abgeraten. Auch wenn der Faltreifen luftdicht ist, kann sich nämlich mit der Zeit sein Wulstkern etwas längen, und ohne den stützenden Schlauch kann es dann vorkommen, dass der Reifen von der Felge springt.
Also bitte keine Experimente! Sie scheinen auch gar nicht nötig, denn was Leichtlauf und Pannenschutz angeht, hat sich der Corsa Graphene 2.0 auch mit Schlauch bewährt – sogar unter Bedingungen, die man einen so feinen Pneu eigentlich gar nicht zumuten möchte