Radsport: Die Tour de France 2020 ist beendet. Wir blicken auf die Leistungen der deutschsprachigen Fahrer und ordnen diese ein.
Deutschland: Es geht bergauf
Mit Marcel Kittel (14 Etappensiege), André Greipel (11) und Tony Martin (5) hatten wir zwischen 2011 und 2017 drei Garanten für Erfolge bei der Tour de France. Diese Zeiten sind vorerst vorbei. So durften wir bei der Frankreich-Rundfahrt im Vorjahr keinen einzigen Etappensieg verbuchen. Zu feiern gab es dennoch etwas. Denn mit Emanuel Buchmann (Bora – hansgrohe) konnten wir endlich wieder mit einem Klassementfahrer mitfiebern. Nachdem er 2019 sensationell Vierter wurde, stand er diesmal nach seinem Sturz beim Critérium du Dauphiné nicht topfit am Start. Als er erkannte, dass er nicht in die Top 10 fahren kann, sparte er Kräfte und überzeugte als treuer Helfer. Doch damit war die größte Trumpfkarte der Deutschen natürlich aus dem Rennen.
Dafür sprangen andere Profis in die Bresche. Lennard Kämna (Bora – hansgrohe) und Maximilian Schachmann (Bora – hansgrohe) mussten viel für ihren Kapitän Peter Sagan für das Grüne Trikot arbeiten. Dennoch bekamen sie freie Fahrt, so bald das Profil ihnen mehr zusagte. Und diese Freiheiten wussten sie zu nutzen. Besonders stark waren beide auf der 13. Etappe. Nur Daniel Martinez (EF) war an diesem Tag unschlagbar. So belegten Kämna und Schachmann die Plätze zwei und drei. Glücken sollte ein solch waghalsiger Ritt dann drei Tage später. Lennard Kämna ließ am Gipfel des letzten Anstieges Giro-Sieger Richard Carapaz (Ineos) stehen und fuhr in Zeitfahr-Manier souverän dem Tagessieg entgegen. Es sollte in diesem Jahr der einzige Sieg der Deutschen sein – aber dafür auch ein wahrlich beeindruckender!
Obwohl Tony Martin (Jumbo – Visma) nicht einmal als Ausreißer aktiv war und auch kein Zeitfahren für ihn auf dem Programm stand, drückte er dem Rennen seinen Stempel auf. Als Lokomotive für Kapitän Primoz Roglic war er während dieser Tour de France stundenlang im Fernsehen zu sehen. Der 35-Jährige beschützte seinen Leader, hielt das Tempo hoch und holte Ausreißer zurück. Bemerkenswert war auch seine Geste auf der ersten Etappe, als er das gesamte Peloton dazu aufrief, im strömenden Regen auf Attacken zu verzichten. Einen ähnlich großen Wert für seine Mannschaft hatte Roger Kluge (Lotto – Soudal). Der 34-Jährige war nicht nur wegen seiner Größe – 1,93 m – immer wieder zu sehen. Nachdem sein Team schon bei der Auftaktetappe zwei Mann verlor, wurde er umso wichtiger. In der Sprintvorbereitung fuhr er seinen Kapitän Caleb Ewan und dessen Anfahrer Jasper de Buyst in Position. So sprangen für den kleinen Australier zwei Etappensiege heraus, an denen Roger Kluge großen Anteil hat. Außerdem sorgte er auf Bergetappen dafür, dass Caleb Ewan stets das Zeitlimit schafft. In Paris kam Roger Kluge letztendlich als 146. und damit letzter an – mit sage und schreibe über 6 Stunden Rückstand. Doch an seiner Aufgabe und an seinen Qualitäten erkennen wir gut, dass der Radsport ein Mannschaftssport ist und auch der Letztplatzierte einer Rundfahrt für seine Mannschaft von enormer Bedeutung sein kann.
Auf eine ganz andere Art und Weise wertvoll für sein Team war Simon Geschke (CCC). Da sich der Hauptsponsor nach dieser Saison zurückziehen wird und die Fahrer daher alle nach einer neuen Bleibe suchen, genossen sie bei der Tour de France viele Freiheiten. Simon Geschke nutzte diese, indem er sich gleich mehrfach in einer Ausreißergruppe zeigen konnte. Oft hatte er den richtigen Riecher, doch seine Begleiter waren einfach zu stark. Als Siebter auf der 13. Etappe musste er sich unter anderem dem überragenden Daniel Martinez (EF) geschlagen geben. Als Fünfter auf der 16. Etappe hieß der Sieger Lennard Kämna (Bora – hansgrohe). Werbung für sich selbst hat Simon Geschke definitiv trotzdem gemacht. Mit all seiner Erfahrung war er neben seinen Ausreißversuchen auch ein wichtiger Helfer für Matteo Trentin (CCC) und Greg van Avermaet (CCC). Dies gilt auch für Teamkollege Jonas Koch (CCC). Mit Rang 13 auf der dritten Etappe fuhr er sein bestes Resultat ein. Eingeplant wurde er jedoch hauptsächlich als Helfer für seine Kameraden. So haben wir von ihm bei der diesjährigen Tour de France – seiner ersten überhaupt – leider wenig zu sehen bekommen.
Durchaus aktiv präsentiert hat sich – ebenfalls bei seiner ersten Tour de France – Max Walscheid (NTT). Als wichtiger Helfer wurde er für Europameister Giacomo Nizzolo (NTT) eingeplant. Als dieser jedoch das Rennen verletzt aufgeben musste, durfte Max Walscheid eigene Ambitionen verfolgen. So sahen wir den 1,99 m großen Hünen überraschend häufig in Fluchtgruppen. Dort hatte er aber leider genauso wenig Glück, wie Nils Politt (Israel Start-Up Nation). Meist harmonierten die Gruppen nicht ausreichend gut miteinander, oder das Hauptfeld hatte ganz andere Pläne und ließ sie erst gar nicht ziehen. Mit etwas mehr Gruppen-Glück wäre beiden Profis durchaus ein Etappensieg zuzutrauen gewesen. Von einem solchen träumt auch immer noch Nikias Arndt (Sunweb), der beim Giro d’Italia und bei der Vuelta a Espana bereits erfolgreich war. Bei der Tour de France 2020 war seine Aufgabe jedoch eine andere. Als Helfer sah die Teamleitung in ihm einen wichtigen Bestandteil des Sprintzuges für Cees Bol. Und obwohl der Niederländer keinen Etappensieg einfahren konnte, jubelte Sunweb dank Marc Hirschi und Sören Kragh Andersen insgesamt dreimal – auch ein Verdienst von Nikias Arndt.
Wirklich unglücklich blicken auf die Tour de France 2020 wohl nur zwei deutsche Fahrer zurück. Ganz besonders hart traf es John Degenkolb (Lotto – Soudal). Der 31-Jährige kam auf der ersten Etappe zu Fall und kämpfte sich mit blutigen Knien ins Ziel. Da er jedoch das Zeitlimit nicht einhalten konnte, durfte er am Folgetag nicht mehr an den Start gehen. Noch bitterer kann eine Tour de France nicht laufen, zumal der Deutsche nach 2018 von einem weiteren Etappensieg bei der Frankreich-Rundfahrt geträumt hat. Sage und schreibe 11x durfte André Greipel (Israel Start-Up Nation) in seiner Karriere schon bei der Tour de France die Arme in die Höhe strecken. Mehr Erfolge werden wohl nicht hinzu kommen. Nach einem Sturz zu Beginn dieser Rundfahrt musste sich der 38-Jährige mit Verletzungen durch Frankreich quälen. Geschafft hat er es bis zur 18. Etappe, ehe er das Rennen aufgeben musste. Immerhin konnte er noch einmal sein Können aufblitzen lassen, als er auf der zehnten Etappe Sechster wurde.
Schweiz: Hirschi ist ein kommender Superstar
Vier Fahrer hat die Schweiz zur Tour de France 2020 geschickt. Und eigentlich haben sich alle vier positiv präsentiert. Über allen ragt natürlich Marc Hirschi (Sunweb). Der 22-Jährige gilt als DIE Entdeckung der Rundfahrt. Nach seinem zweiten Platz auf der zweiten Etappe fragte sich Adam Yates (Mitchelton – Scott) noch, wer dieser Hirschi eigentlich sei. Spätestens jetzt dürfte der Brite den Schweizer kennen. Und er wird sich in den kommenden Jahren mit ihm messen müssen. Denn Marc Hirschi ist innerhalb weniger Tage zu einem absoluten Top-Fahrer der Szene aufgestiegen. Auf der neunten Etappe wurde er Dritter, ehe er auf der zwölften Etappe endlich seinen Sieg bejubeln durfte. Und es wäre vermutlich noch besser geworden, wenn er nicht auf der 18. Etappe zu Fall gekommen wäre. Dort nämlich schien er erneut der stärkste Mann der Gruppe gewesen zu sein. Außerdem stand er kurz davor, das Bergtrikot zu übernehmen und dann womöglich bis nach Paris zu tragen. So wurde er in Frankreichs Hauptstadt immerhin mit der roten Rückennummer des aktivsten Fahrers ausgezeichnet. Es wird nicht seine letzte Auszeichnung gewesen sein.
Ebenfalls ein Kandidat für die rote Rückennummer war Michael Schär (CCC). Gleich mehrfach bekamen wir den 33-Jährigen auf Flachetappen in Fluchtgruppen zu Gesicht. Doch leider hatte der 1,98 m große Schweizer kein Glück mit der Auswahl seiner Etappen. Obwohl er immer wieder eingeholt wurde, ließ er sich nicht beirren und versuchte es einfach am nächsten Tag wieder. Einmal war er sogar zusammen mit Landsmann Stefan Küng (Groupama – FDJ) unterwegs. Dieser hätte eigentlich hauptberuflich Kapitän Thibaut Pinot (Groupama – FDJ) helfen sollen. Doch als dieser sich auf Grund von Verletzungen aus der Gesamtwertung verabschiedete, bekam er freie Fahrt. Nach 16 Etappen stieg Stefan Küng schließlich vom Rad, um sich auf die Zeitfahr-WM in Imola vorzubereiten. Weltmeister wird Sebastien Reichenbach (Groupama – FDJ) wohl nie werden, dafür ist er aber aktueller Schweizer Meister. Und das schöne rote Trikot mit dem weißen Kreuz hat der 31-Jährige auch in diesem Jahr würdevoll präsentiert. Mit Rang acht auf der zwölften Etappe und Rang drei auf der 16. Etappe hat er gezeigt, dass er mindestens ein Edelhelfer ist.
Österreich: Nur 2 von 5 erreichen Paris
Weniger gut lief die Tour de France 2020 für die Österreicher. Wegen seiner Sturzverletzungen bekamen wir Gregor Mühlberger (Bora – hansgrohe) fast nur hinter dem Hauptfeld zu Gesicht. Lukas Pöstlberger (Bora – hansgrohe) wurde während dem Rennen von einer Wespe gestochen. Und Michael Gogl (NTT) verausgabte sich bei seinen Fluchtversuchen so sehr, dass er einfach nicht mehr konnte. So verließen diese drei Österreicher auf den Etappen 11 bzw. 19 die Rundfahrt. Nicht unerwähnt bleiben sollte trotzdem, dass die beiden zuerst genannten Profis für ihre Kapitäne Emanuel Buchmann und Peter Sagan arbeiten mussten und diese Aufgaben vor allem in der Ebene zuverlässig erledigen konnten. Freiheiten bekamen sie auf Grund der Umstände allerdings nicht. Michael Gogl hingegen schon. Gleich mehrfach war er als Ausreißer aktiv, kam über Rang 16 auf einer Etappe aber nicht hinaus. Etwas unsichtbar schien
Felix Großschartner (Bora – hansgrohe) zu sein. Der talentierte Kletterer wurde eigentlich eingeplant, Emanuel Buchmann als Edelhelfer die Berge hinaufzuziehen. Weil es dazu aber nie kommen sollte, blieb er verständlicherweise etwas blass. Marco Haller (Bahrain – McLaren) durfte ebenso nicht auf eigene Rechnung fahren. Der 29-Jährige wurde dennoch überraschend vielseitig eingesetzt. In der Ebene für Sonny Colbrelli (Bahrain – McLaren) aktiv, sahen wir ihn dann sogar bergan Tempo machen, als seine Mannschaft eine Attacke von Mikel Landa (Bahrain – McLaren) vorbereitete.