Radsport: Am Freitag beginnt die 100. Ausgabe der Italienrundfahrt. Wir werfen einen ausführlichen Blick auf die Favoriten des Giro d’Italia 2017. Dabei steht Nairo Quintana (Movistar) bei uns ganz oben auf dem Zettel. Auf den Kolumbianer folgen ein Dutzend Podiumskandidaten. Wer hat die besten Chancen?
Nairo Quintana (Movistar)
Als klarer Favorit auf den Gesamtsieg geht Nairo Quintana ins Rennen. Der Kolumbianer gewann den Giro d’Italia im Jahr 2014 und die Vuelta a Espana 2016. Nur bei der Tour de France wartet er nach drei Podiumsplatzierungen noch auf den ganz großen Wurf. Umso überraschender, dass er auch in dieser Saison bei der Italienrundfahrt an den Start geht. Quintana gilt als bester Bergfahrer unserer Zeit. Demnach wird es schwer, ihm im Gebirge Zeit abzunehmen. Wer ihn schlagen möchte, muss an den Bergen sein Hinterrad halten und ihn im Zeitfahren bezwingen. Quintana wird wie gewohnt auf ein starkes Movistar-Team bauen können. Neben seinem Sieg bei der Volta a la Comunitat Valenciana gewann er in diesem Jahr auch Tirreno-Adriatico. Wie gut der Kolumbianer tatsächlich beim Giro in Form sein wird, ist auf Grund seiner wenigen Rennen im Vorfeld ungewiss. Er hat jedoch bereits mehrfach bewiesen, dass er den perfekten Formaufbau drauf hat.
Vincenzo Nibali (Bahrain-Merida)
Das, worauf Nairo Quintana noch warten muss, hat Vincenzo Nibali bereits geschafft. Der Italiener gewann nämlich neben dem Giro d’Italia und der Vuelta a Espana auch schon die Tour de France. Beim Giro d’Italia 2016 gelang ihm eine furiose Aufholjagd. Er lag in der Gesamtwertung weit zurück, konnte aber mit einer hervorragenden Schlusswoche noch an allen Konkurrenten vorbeiziehen. Die Erfahrung sowie die Abgeklärtheit spricht auch in dieser Saison für Vincenzo Nibali. Fraglich ist jedoch, ob der Italiener noch so stark ist, wie er früher einmal war. 2017 gewann er die eher schwach besetzte Tour of Croatia. Ansonsten zog er im Duell gegen namhafte Konkurrenten immer den Kürzeren. Auch er wird einigen Klassementfahrern im Kampf gegen die Uhr unterlegen sein. Ein Fragezeichen steht auch hinter seinem neu zusammen gewürfelten Team Bahrain-Merida. Ein heißer Anwärter auf das Podium ist Nibali aber so oder so.
Steven Kruijswijk (LottoNL-Jumbo)
Steven Kruijswijk ist der Aufsteiger der Saison 2016. Der Niederländer feierte zwar keine großen Erfolge, doch seine Leistungen ließen aufhorchen. Ohne seinen Sturz auf der 19. Etappe der letztjährigen Italienrundfahrt hätte er wohl seine erste Grand Tour gewonnen. Nach diesem Rückschlag erholte er sich nur langsam. Auch bei der Vuelta a Espana hatte er Pech, denn auf der 5. Etappe kam er zu Fall und musste aufgeben. Alle Radsportfans wünschen ihm nun in dieser Saison etwas mehr Glück. Mit Quintana hat er aber einen deutlich stärkeren Gegner zu bezwingen. Auch sein Team ist deutlich schwächer als die Equipe von Movistar. In guter Form ist Steven Kruijswijk allerdings erneut ein starker Giro d’Italia zuzutrauen. Ob er die hat, ist jedoch eher zu bezweifeln. Schließlich kann er in dieser Saison noch keine Top-Resultate vorweisen. Lediglich bei der Volta a Catalunya feierte er mit Rang sieben einen kleinen Achtungserfolg.
Tom Dumoulin (Sunweb)
Der aktuell beste Zeitfahrer im Peloton neben Tony Martin heißt Tom Dumoulin. Der Niederländer kann aber deutlich mehr, als nur im Kampf gegen die Uhr zu brillieren. Sein Potential in den Bergen hat er oft angedeutet, doch über drei Wochen konnte er im Hochgebirge nie mit den besten Kletterern mithalten. Durchaus möglich, dass Dumoulin sein Training angepasst hat. Er wirkt motiviert, sich wie Miguel Indurain von einem Top-Zeitfahrer auch zu einem Top-Kletterer zu entwickeln. Dabei möchte er jedoch seine Zeitfahr-Fähigkeiten nicht verlieren. Letztes Jahr gewann er die 9. Etappe und die 13. Etappe der Tour de France. In dieser Saison konnte er noch keinen Sieg feiern. Bei Tirreno-Adriatico wurde er sechster. Da es beim Giro d’Italia 2017 einige Zeitfahrkilometer zu absolvieren gibt, rechnen ihm viele Experten gute Chancen ein. Tatsächlich vorn rein fahren kann er aber nur, wenn er sich in den Bergen tatsächlich stark verbessert hat.
Mikel Landa (Sky)
2015 ging der Stern von Mikel Landa auf. Er gewann die 16. Etappe beim Giro 2015 und die 11. Etappe der Vuelta 2015. Beide Teilstücke galten als Königsetappe der jeweiligen Rundfahrt. Nach seinen hervorragenden Leistungen für das Team Astana verpflichtete ihn das Team Sky. Er sollte im Folgejahr bei der Italienrundfahrt als Kapitän um den Gesamtsieg mitfahren. Auf der 10. Etappe des Giro 2016 stieg er jedoch aus. Auch ansonsten erfüllte er nicht die Erwartungen. Eine gute Figur hinterließ der Spanier in dieser Saison bei der Ruta Del Sol und der Tour of the Alps. Hat er sich dort in Bestform gefahren, müssen ihn die Konkurrenten durchaus auf dem Zettel haben. Sein Team wird in jedem Fall stark genug sein. Er muss sich die Rolle des Kapitäns sogar mit Geraint Thomas teilen. Immerhin verzichtet Sky auf Sprinter Elia Viviani und setzt voll auf die Gesamtwertung.
Geraint Thomas (Sky)
Das zweite heiße Eisen im Feuer von Sky heißt Geraint Thomas. Der Brite ist ein wahres Allround-Wunder. Er gilt bei einigen Eintagesklassikern mit Kopfsteinpflaster als Mitfavorit, ebenso wie bei einwöchigen und dreiwöchigen Rundfahrten. Selbst im Kampf gegen die Uhr kann er sich nicht selten ganz weit vorn platzieren. Sein Problem: In keinem Bereich ist er der Beste. Dies möchte er in diesem Jahr ändern. Er verzichtete auf die Eintagesklassiker und fokussierte sich im Training auf die Berge. Ausgezahlt hat sich das bereits bei der Tour of the Alps, die er als Sieger beenden konnte. Zuvor war er in seiner Karriere auch schon siegreich bei Paris-Nizza 2016. Bei einer dreiwöchigen Landesrundfahrt zu bestehen, ist aber eine ganz andere Hausnummer. Sicher ist sich auch das Team Sky nicht, ob Thomas bereits so weit ist. Daher setzen die Teamchefs mit Landa und Thomas direkt auf zwei potentielle Podiumskandidaten.
Bauke Mollema (Trek-Segafredo)
Die Niederländer bringen neben Steven Kruijswijk und Tom Dumoulin auch noch einen dritten starken Rundfahrer an den Start. Bauke Mollema ist im letzten Jahr Teil eines jeden Saisonrückblicks gewesen. Er stürzte bei der Tour de France hinauf zum Mont Ventoux genauso wie Chris Froome. Am Ende wurde er bei der Großen Schleife elfter, doch seine Leistungen waren bedeutend besser als dieser Platz. Direkt danach gewann er die Clasica San Sebastian. Im Jahr 2017 präsentierte er sich bei der Vuelta a la Provincia de San Juan, der Abu Dhabi Tour, Tirreno-Adriatico und der Volta a Catalunya in einer guten Verfassung. Den Giro d’Italia wird er in dieser Saison aber wohl eher nicht gewinnen können. Zu schlecht sind bis dato seine Zeitfahr-Ergebnisse gewesen. Mollema benötigt eine bestechende Form in den Bergen und einen taktischen Plan, damit er das Podium erreichen kann.
Thibaut Pinot (FDJ)
Auch die Franzosen konzentrieren sich nicht nur auf ihre Tour de France. Thibaut Pinot wird zum Giro d’Italia geschickt. Dort stand der Kapitän vom Team FDJ noch nie am Start. Dafür fuhr er bei der Tour de France zweimal und bei der Vuelta a Espana einmal in die Top 10. Die Qualitäten des mittlerweile 26-jährigen sind unbestritten. Vor allem in den Bergen muss Pinot vorn mitfahren, denn im Zeitfahren hat der Franzose seine Schwächen. Auch wenn er sich dort – genauso wie in den Abfahrten – in den vergangenen zwei Jahren verbessert hat. Ihm zur Seite gestellt werden die beiden Schweizer Steve Morabito und Sébastien Reichenbach. Auf ein gutes Team im Hochgebirge kann er jedoch nicht bauen. Er wird als Einzelkämpfer bestehen müssen. Mit guten Resultaten konnte er 2017 auf sich aufmerksam machen. Bei der Ruta del Sol und Tirreno-Adriatico wurde er Dritter, bei der Tour of the Alps Zweiter.
Adam Yates (Orica-Scott)
Adam & Simon Yates gehören zu den talentiertesten Fahrern ihren Alters. Beim Giro d’Italia wird jedoch nur Adam am Start stehen, da Simon für die Tour de France vorgesehen ist. Adam Yates dürfte vielen Radsportfans ein Begriff sein, weil er auf der 7. Etappe der letztjährigen Tour de France einen Kilometer vor dem Ziel durch den Luftbogen zu Fall kam. Doch auch mit seinen sportlichen Leistungen konnte er auf sich aufmerksam machen. Er gewann die Clasica San Sebastian 2015 und wurde bei besagter Tour de France am Ende Vierter der Gesamtwertung. Im Jahr 2017 beendete er die Volta a Catalunya auf Rang vier und Lüttich-Bastogne-Lüttich auf dem achten Platz. Adam Yates wird man definitiv auf der Rechnung haben müssen. Für Etappensiege kommt er ohnehin in Frage. Kann er seine Form aus der Saison 2016 erreichen, ist er ein Kandidat für das Podium.
Ilnur Zakarin (Katusha-Alpecin)
Beim Giro d’Italia hatte Ilnur Zakarin bisher kein Glück. Bei seinen beiden Teilnahmen ließ er sein Können zwar aufblitzen, doch ganz vorn reinfahren konnte er über die drei Wochen nicht. Sein bestes Resultat bei einer Grand Tour fuhr er im letzten Jahr mit Rang 25 bei der Tour de France ein. Deutlich besser konnte er in seiner bisherigen Karriere bei den einwöchigen Rundfahrten abschneiden. So gewann der Russe bereits die Tour de Romandie und fuhr bei Paris-Nizza und der Tour de Pologne in die Top 5. Es macht daher den Eindruck, dass sich Zakarin eher als Etappenjäger und eben als Spezialist für kurze Rundfahrten versteht. Versuchen wir er es beim Giro d’Italia aber in diesem Jahr erneut mit der Gesamtwertung. Mit seinem zweiten Platz bei der Abu Dhabi Tour, Rang sechs bei Paris-Nizza und Platz 15 bei der Tour de Romandie ließ er zumindest eine ordentliche Form andeuten.
Tejay Van Garderen (BMC)
Vor vielen Jahren galg Tejay Van Garderen als Riesentalent. An der Seite von Cadel Evans traute man ihm damals bei der Tour de France den ganz großen Wurf zu. Seine Erwartungen konnte er bis heute nie wirklich erfüllen, obwohl er bei der Großen Schleife zweimal Fünfter wurde. Beim Giro d’Italia wird er nun zum ersten Mal am Start stehen. Das verwundert nicht, denn der Amerikaner wird keine Lust haben, nur als Helfer von Richie Porte seine Saison auf die Tour de France auszurichten. Es könnte sein, dass wir den stärksten Van Garderen seit Jahren erleben, denn seine letzten Wochen ließen aufhorchen. Bei der Volta a Catalunya wurde er Fünfter, bei der Tour de Romandie Sechster. Seit seinem Etappensieg auf der 6. Etappe der Tour de Suisse 2016 zeigt seine Formkurve allgemein wieder etwas nach oben. In die Top 5 sollte er hier auf jeden Fall fahren können.
Domenico Pozzovivo (Ag2r)
Es kam überraschend, dass das Team Ag2r den Vertrag mit Domenico Pozzovivo dann doch noch einmal verlängert hat. Schließlich ist der kleine Italiener mittlerweile auch schon 34 Jahre alt. Im vergangenen Jahr konnte er seine in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Nachdem er zwischen 2008 und 2014 beim Giro viermal in die Top 10 gefahren war, landete er im letzten Jahr lediglich auf Rang 20. In diesem Jahr ist jedoch durchaus ein Aufwärtstrend zu erkennen, denn bei einigen Rennen präsentierte er sich in einer guten Verfassung. So wurde er bei Tirreno-Adriatico Zehnter und bei der Tour of the Alps Dritter. Es ist stark davon auszugehen, dass Pozzovivo in den Bergen vorn mitfahren wird. Die Zeitfahrkilometer werden einen Platz auf dem Podium zwar nahezu unmöglich machen, doch eine Top 10 Platzierung wird man sich von ihm schon erhoffen.
Bob Jungels (Quick-Step Floors)
Nach Andy und Frank Schleck hat das kleine Land Luxemburg wieder einen Klassementfahrer. Spätestens nach seinem sechsten Platz beim Giro d’Italia 2016 sind die Hoffnungen riesig, dass der nun 24-jährige bei einer Grand Tour aufs Treppchen fahren könnte. Eine gute Platzierung ist ihm definitiv zuzutrauen, auch weil er sich bei der Tour de Romandie mit Rang acht in einer guten Verfassung präsentierte. Allerdings ist Bob Jungels bisher noch zu keinem Siegfahrer gereift. Außerhalb seines Heimatlandes gewann er lediglich vier Rennen, wobei das bedeutendste davon noch das Etoile de Bessèges im Jahr 2015 war. Es wird also langsam Zeit für den nächsten Schritt. Ob ihm dieser direkt beim Giro d’Italia 2017 gelingt? Zumindest wäre eine Top 5 Platzierung im Gesamtklassement und vielleicht ein Etappensieg eine Weiterentwicklung in seiner Karriere. Dabei kann Bob Jungels neben seinen Qualitäten in den Bergen auch auf seine Fähigkeiten im Zeitfahren bauen.