Sind E-Bikes ausverkauft? Stehen die Kunden im Fahrradhandel vor leeren Podesten? Derzeit ist es eher umgekehrt: Jede Menge neuer Bikes warten darauf, gekauft zu werden. Velomotion hat sich im Handel umgehört und erfahren, dass die Situation deutlich entspannter ist, als die Presse gerne berichtet.
Wenn sogar Oliver Welke in der „Heute Show“ darauf anspielt, muss es ja stimmen: Ob Elektronik oder Spielwaren, weniger Wochen vor Weihnachten sind die Regale im Zuge der globalen Lieferkrise leer – und selbst Fahrräder sind nicht mehr zu bekommen!
Ganz aus der Luft gegriffen ist diese Meldung natürlich nicht. Seit dem Frühjahr 2020 kann die Fahrradbranche eine deutlich gestiegene Nachfrage vermelden; parallel gab es in der Tat Versorgungsengpässe, verursacht durch Corona-bedingte Firmenschließungen und die bekannte Knappheit an Transportkapazitäten. So waren in diesem Sommer viele Modelle ebenso schwer zu bekommen wie wichtige Ersatzteile – und Komponenten, die die Hersteller selbst zur Komplettierung ihrer Fahrräder brauchen. Nicht wenige Kunden mussten also die Erfahrung machen, dass ihr Wunschrad nicht verfügbar war. Gleichzeitig hat der Handel angesichts der starken Nachfrage 2020 sein Bestellvolumen erhöht – und das führt zur absurden Situation, dass die Radläden nach einem Jahr mit großer Nachfrage und reduziertem Angebot derzeit das genaue Gegenteil erleben.
Viele Räder –wenig Kunden
„Derzeit kommen überraschend wenige Kunden zu uns“, wundert sich Radhändler Klaus Schmitz aus Dorsten. „Die Leute denken, es sei nichts da, dabei haben wir viel geordert und sind gut aufgestellt.“ Der Geschäftsführer des ZEG-Fachhändlers Fahrrad Schmitz ist mit dieser Beobachtung nicht allein – auf die Jahreszeit bezogen, sprechen viele Händler von einem deutlichen Kundenrückgang, der bis zu 30 Prozent betragen kann. Dabei sei dies die beste Zeit, um ein neues Fahrrad zu erwerben, findet Christoph Alff von Zweirad Joos am Bodensee. „Von Juni bis Oktober standen die Podeste im Laden leer, doch jetzt sind sie wieder voll“, gibt er Entwarnung, mahnt aber auch: „Kunden sollten die Gunst der Stunde nutzen und jetzt ihr Bike kaufen oder bestellen, denn wie es weitergeht, weiß keiner genau.“ Gerade beliebte Modelle stehen seiner Erfahrung nach derzeit nur kurz im Laden: „Sie sind entweder schon von Kunden reserviert oder werden sofort abverkauft.“
Bei Fahrrad Denfeld in Bad Homburg sind derzeit rund 5.000 Räder im Bestand – deutlich weniger als üblich. „Im Prinzip können wir aber immer noch hundert Prozent des Sortiments abdecken, da keine Sparte komplett ausverkauft ist“, so Mitgeschäftsführer Marc Denfeld. „City-, Trekking- und Kinderräder sind in allen Bereichen vorhanden, E wie Non-E.“ Die Lieferverzögerungen der vergangenen Monate hätten dabei auch ihr Gutes, erklärt der Fachhändler. „Es treffen immer noch 2021er Modelle ein, die im Preis attraktiver sind, da für 2022 die Preise noch einmal angezogen haben.“
Keine Krise für den klugen Kaufmann
Auch Martin Willner vom Fahrradzentrum Willner in Ingolstadt sieht die Situation im Handel gelassen. Er habe vorausschauend und unternehmerisch bestellt, sagt er, nun sei das Lager sogar voller als zu dieser Zeit üblich. „Nur der unkluge Kaufmann spricht gerade von einer Krise“, resümiert Willner, den höchstens die Sorge umtreibt, der Nachschub könne ausbleiben. Auf die Lage bei den Ersatzteilen angesprochen, kann er Entwarnung geben: „Auch in der Werkstatt wartet momentan niemand länger als drei Tage und es sind noch genug Ersatzteile da.“ Aber Vorsicht: In vielen Fahrradgeschäften haben die eigenen Kunden derzeit Vorrang, wenn es um Werkstattleistungen geht. Wo bestimmte Komponenten fehlen, kann es durchaus sein, dass „Fremdbikes“ nicht angenommen werden, will man doch die Ersatzteilversorgung der eigenen Räder gewährleisten – das deutete der ein oder andere Händler gegenüber Velomotion an.
Besser jetzt in die Werkstatt
Bei Europas größter Zweirad-Einkaufs-Gemeinschaft (ZEG) in Köln mit rund 1.000 Mitgliedsbetrieben und zahlreichen Eigenmarken überblickt man die Situation von Händler- wie von Herstellerseite. „Die ZEG-Händler stehen mit ihrem Einkaufsverbund gut da und verfügen über eine große Auswahl an Rädern“, so Vorstandsassistent Axel Hintermeier. Er schätzt die Lage als weniger dramatisch ein als von den Medien dargestellt, mahnt aber gerade bezüglich Reparaturen und Wartung zügiges Handeln an. „Die Kunden sollten jetzt hingehen und machen lassen, was zu machen ist – von Dezember bis Februar. Denn ab März ist eine Überauslastung mit sehr langen Wartezeiten zu erwarten.“ Dann nämlich werde sich das saisonbedingt hohe Kundenaufkommen mit dem Aufbau von neuen Rädern überschneiden, der aufgrund der Lieferverzögerungen später als sonst stattfände.
Auch Hintermeier weist auf eine Verknappung bestimmter Bauteile hin; so würden manche Händler Verschleißteile wie Ketten aus dem Sortiment nehmen, da sie in der Werkstatt benötigt würden. Sein Fazit: „Lassen Sie Ihr Fahrrad jetzt reparieren – aktuell ist noch alles da.“
Hat Oliver Welke also unrecht? Offensichtlich sind E-Bikes nicht ausverkauft und ein Fahrrad zu zersägen und jedem Kind eine Hälfte zu schenken, wie in der Satiresendung gezeigt, ist in der aktuellen Situation sicher nicht nötig. Auf die lange Bank schieben sollte man Fahrradkauf und -reparatur aber auch nicht.