Radsport: Was haben John Degenkolb, Robert Förstemann, André Greipel, Robert Wagner und René Enders gemeinsam? Nicht nur gehören sie momentan zu den Aushängeschildern des deutschen (Bahn-)Radsports, sondern ebenso verbindet sie eine Vergangenheit beim SSV Gera. Wir haben den Radsportverein besucht und staunten nicht schlecht über das Niveau der Jugendarbeit und nicht zuletzt auch über die U15 Renngemeinschaft, das Future Team Jenatec-Breckle.
Betritt man den Eingangsbereich des unscheinbaren Vereinshauses ganz im Süden Geras, wird man von zahlreichen signierten, in dunkle Holzrahmen gefassten Trikots an den Wänden begrüßt – es sind Danksagungen und Grüße ehemaliger Vereinsmitglieder, die inzwischen den Sprung an die Weltspitze des Radsports geschafft haben. Auf der einen Seite erstrahlen die Weltmeister-Streifen auf einem Trikot von Robert Förstemann, schräg gegenüber erblicken wir ein schwarz-rot-goldenes Trikot mit Lotto-Soudal Schriftzug – klar, das kann nur von André Greipel sein.
Neben Förstemann und Greipel trainierten unter anderem auch John Degenkolb, Robert Wagner, René Enders oder Marcel Barth beim SSV Gera. Blickt man noch weiter zurück, stolpert man in den Vereinsannalen sogar über Radsportlegende Olaf Ludwig. „Die Jungs pflegen alle noch Kontakt zu uns und versuchen zu helfen, wo es geht. André Greipel hat uns vor nicht allzu langer Zeit beispielsweise einen riesigen Karton neue Radschuhe in allen möglichen Größen geschickt,“ erzählt U13-Trainer und Sportlicher Leiter Lucas Schädlich.
Der ganze Stolz des SSVs ist seine Jugendarbeit – zu Recht. Man ist in Gera nämlich um einen ganzheitlichen Ansatz bemüht, der schon sehr früh ansetzt und so die bestmögliche Taltenförderung bieten soll. „Eine enorm wichtige Rolle spielen möglichst perfekte Strukturen im Verein,“ weiß Sportdirektor Bernd Herrmann. Auch in Gera bekam man vor einigen Jahren die Krise des Radsports hierzulande zu spüren: Anmeldungen – vor allem im Jugendbereich – waren wie bei allen deutschen Radsportvereinen rückläufig und U15 bzw. U17 brachen fast komplett weg. Dass dann beim Hochwasser 2013 das zum SSV Gera gehörende Sportinternat komplett zerstört wurde, tat sein übriges.
SSV Gera – Deutschlandweit einzigartige Jugendarbeit
„Wir haben uns zusammengesetzt und überlegt was wir tun können. Wir wollten etwas Neues, etwas Besonderes machen,“ erzählt Herrmann über diese kritische Phase. Aus diesen Überlegungen ist eine deutschlandweit einzigartige Trainerstruktur in Gera hervorgegangen. So arbeitet mit Lucas Schädlich ein ausgebildeter Trainer hauptamtlich bereits mit der U13. Dabei soll es gar nicht um ein überprofessionelles Training für die Kids gehen, sondern vor allem um eine professionelle und angemessene Betreuung. Ebenso will man den jungen Sportlern eine gewisse Ernsthaftigkeit vermitteln und ihnen zeigen, wie es sich anfühlt, einen Sport professionell zu betreiben – „Eine Vorstufe zum Jungprofi gewissermaßen,“ erklärt Herrmann das Projekt. Der Leistungsgedanke tritt dann erst mit der U15 in den Vordergrund.
Eine weitere Konsequenz aus den Überlegungen während der Radsportkrise vor einigen Jahren ist die Kooperation mit einigen Schulen aus der Region. Hier bietet der SSV Gera AGs an, für die sich auch schon die ganz jungen im Bereich der U9 anmelden können. Um die Hürde für eine derartige AG möglichst gering zu halten und dennoch optimale Voraussetzungen bieten zu können, organisiert der SSV mehrmals wöchentlich für diese AGs einen Shuttleservice, der die Kinder von der Schule zum Trainingsgelände und wieder zurück bringt. Hier geht es auch nicht primär darum, den zukünftigen André Greipel oder Robert Förstemann zu entdecken, sondern einen ersten Kontakt mit dem Radsport herzustellen – in welcher Form auch immer. „Wir haben vor ein paar Jahren auch ein paar BMX-Räder angeschafft, Mountainbikes haben wir auch,“ sagt Lucas Schädlich – nicht ganz ohne Stolz. Überhaupt: Die Ausstattung ist super. Bahnräder von Specialized, jede Menge Straßenräder in unterschiedlichen Größen, zwei Krafträume und sogar ein Dutzend moderne Spinning-Räder stehen den Jungsportlern zu Verfügung.
All das ist natürlich mit einem hohen finanziellen Aufwand verbunden, der sich nicht mit dem Jahresbeitrag von nur 72€ decken lässt. Deshalb suchte man vor einigen Jahren vor allem im regionalen Umfeld nach Sponsoren, Unterstützern und Geldgebern, die Interesse daran hatten, derartige Radsport-Jugendarbeit zu unterstützen. Die Resonanz war fast durchweg positiv und inzwischen kann man auf eine stabile Basis an Sponsoren bauen, die eben eine solch gute Ausstattung und möglichst gute Bedingungen für die Jungathleten möglich machen. „Inzwischen haben wir auch stabile Lizenz- und Mitgliederzahlen und spüren, dass sich die Arbeit auszahlt,“ berichtet Heike Schramm, Trainerin der U15. Damit ist auch ein Polster da für Teambuilding-Maßnahmen wie Rafting, Canyoning oder die jetzt im Frühjahr anstehende Ski-Ausfahrt.
Das Future Team Jenatec-Breckle – Juniorenteam auf Profiniveau
Die Speerspitze der Jugendarbeit des SSV Gera ist das im vergangenen März ins Leben gerufene Future Team Jenatec-Breckle. Die U15 Renngemeinschaft versprüht nicht nur durch ihren Namen den Flair eines echten Profiteams. Mit einheitlichen Trikots, ab nächster Saison einheitlichen Teamrädern, einer Fahrzeugflotte für die Fahrten zu den Wettkämpfen und einer möglichst professionellen Betreuung soll die von Sportdirektor Herrmann erwähnte Vorstufe zum Jungprofi realisiert werden.
„Wir sind auf einem wirklich guten Weg. Wir hatten bisher nur einen einzigen Abgang und ich darf glaube ich behaupten, dass alle unsere Future Team-Fahrer sehr zufrieden sind,“ freut sich Herrmann mit einem zufriedenen Grinsen im Gesicht. Doch nicht nur die positive Resonanz der Sportler selbst bestätigt den eingeschlagenen Weg, sondern vor allem die tollen Resultate: Vier deutsche Meistertitel fuhren die Jungs und Mädels ein. Gleich drei Mal Gold ging an Anne Sprigode, nämlich im Straßenrennen, Omnium und Paarzeitfahren. Domenik Wolf durfte über den Titel mit dem Straßen-4er jubeln. Auch für die nötige Perspektive ist gesorgt: Das Ziel ist es, ein eigenes Geraer Bundesligateam mit den Athleten aus dem Future-Team an den Start zu bringen.
Bei unserem Besuch hatten wir außerdem die Gelegenheit, bei einem Training des Future Teams Jenatec-Breckle Mäuschen zu spielen. Trainingsbeginn 16:30 Uhr bedeutet während des Winters: Die Einheiten im Freien müssen im Schein des Flutlichts absolviert werden. Zum Aufwärmen steht eine Einheit Basketball auf dem Programm. Die Rufe und der Jubel der Kids hallen über das dunkle Vereinsgelände. „Zusammenspielen! Nicht immer mit dem Kopf durch die Wand!“ ruft Trainerin Heike Schramm – eine Lektion, die auch im Radsport von elementarer Bedeutung ist. Nach einigen Übungen an den Treppenstufen hinauf zur Betonbahn direkt vor dem Vereinshaus folgt noch eine Laufeinheit, bevor es schließlich in den Trainingsraum geht.
Drinnen angekommen und vom Trainingsanzug in ein weniger warmes Outfit geschlüpft, versammeln sich die Jungs und Mädels im Trainingsraum an den Geräten. Im Zweiminutentakt absolviert eine Gruppe hier Übungen, während der Rest pausiert. Nach jeder Einheit werden die jeweils geschafften Wiederholungen auf den persönlichen Trainingsplänen notiert. So lässt sich der Fortschritt über die Saison dokumentieren und das sorgt für ordentlich Motivation wie wir schnell sehen: „Wie viele hast du?“ „46!“ „46? Boah!“ hallt es durch den kleinen Raum. Die Atmosphäre ist locker, aber dennoch konzentriert. Bei allen Witzen, die gerissen werden und den vielen lachenden Gesichtern geht die nötige Ernsthaftigkeit dennoch nicht verloren.
Nach rund zwei Stunden ist das heutige Training beendet – und wir wurde Zeuge der wirklich tollen Jugendarbeit beim SSV Gera. Das Training und die Erfolge sind das eine, doch das Konzept und die Mühe, die alle Verantwortlichen investieren und nicht zuletzt das Future Team Jenatec-Breckle sind schlicht beeindruckend. Da wir die Entwicklung des Teams weiter verfolgen möchten und dies auch gerne mit euch – unseren Lesern – teilen würden, findet ihr ab sofort einen regelmäßigen Blog des SSV Gera auf Velomotion.