Radsport: Ein internationales Starterfeld, ein abwechslungsreicher Parcous in toller Landschaft und ein packendes Rennen bis zur letzten Minute: Die Spanienrundfahrt 2015 bot großen Sport. Velomotion blickt zurück.
Als er über den Zielstrich der 20. Etappe fuhr, jubelte Fabio Aru (Astana) ausgelassen. Nicht etwa, weil er einen Etappensieg feierte. Dieses Kunststück gelang ihm bei der diesjährigen Vuelta nicht. Der gerade einmal 25-jährigen Italiener sicherte sich in Cercedilla vielmehr seinen ersten Sieg bei einer dreiwöchigen Rundfahrt. Schlüssel zum Erfolg waren für Aru seine Beständigkeit über die drei Wochen, ein erstaunlich gutes Zeitfahren, nach dem er als einziger der Favoriten in Schlagdistanz zum Niederländer Tom Dumoulin (Giant-Alpecin) blieb, und die beeindruckende Mannschaftsstärke von Astana. Vielleicht war gerade das unfreiwillige Ausscheiden des nominellen Kapitäns Vincenzo Nibali die Vorausetzung für Aru, in Spanien auf Sieg fahren zu können. Spätestens, nachdem auch Teamkollege Mikel Landa auf der 9. Etappe viel Zeit eingebüsst hatte, war Aru der alleinige Leader bei Astana.
Der Sieger
Arus Stern ging 2014 auf, als er etwas überraschend Dritter des Giro d´Italia wurde und eine Etappe für sich entschied. Sein besonderes Talent für dreiwöchige Rundfahrten bestätigte er im selben Jahr, als er Fünfter der Spanienrundfahrt wurde und zwei Etappen gewann. 2015 lieferte er sich beim Giro d´Italia ein packendes Duell mit Alberto Contador (Tinkoff-Saxo) und gewann zwei Etappen. In der Gesamtwertung musste er mit Platz zwei Vorlieb nehmen, und lange Zeit sah es auch bei der diesjährigen Spanienrundfahrt so aus, als würde Aru haarscharf am Titel vorbeifahren – bis er auf der 20. Etappe Tom Dumoulin doch noch vom Thorn stoßen konnte. Von entscheidender Bedeutung war dabei auch die Stärke seiner Mannschaft, allen voran – wie schon beim Giro d´Italia – ein bärenstarker Mikel Landa. Dieser gewann nicht nur die schwere 11. Etappe in Andorra, sondern war auch bei der entscheidenden 20. Etappe der Wegbereiter für die Entscheidung zugunsten Arus. Im nächsten Jahr werden die Beiden zu Konkurrenten: Landa wechselt zum Team Sky. Nach diesem überragenden Jahr wird er sich wohl kaum damit zufrieden geben, für Chris Froome den Domestiken zu geben. Wenn er als Kapitän in den Giro d´Italia gehen sollte, dürfte Hochspannung garantiert sein. Denn nachdem Fabio Aru nun endlich seine erste Grand Tour gewonnen hat, wird es sein erklärtes Ziel sein, auch die Rundfahrt in seiner Heimat Italien zu gewinnen.
Die Top Ten
Eingerahmt wurde Aru auf dem Podest der Vuelta vom Gesamtzweiten Joaquim Rodriguez (Katusha) und dem Dritten Rafal Majka (Tinkoff-Saxo). Während der 36-jährige Spanier einen Etappensieg feierte und bereits zum fünften Mal auf das Podium einer Grand Tour fuhr, steht der zehn Jahre jüngere Pole zum ersten Mal auf dem Podest einer dreiwöchigen Rundfahrt. Mit seinen mittlerweile drei Etappensiegen bei der Tour de France und dem jüngsten Top-Ergebnis in Spanien ist Majka neben Weltmeister Michal Kwiatkowski (Etixx-Quick Step) das Aushängeschild des polnischen Radsports. Wenn er sich weiter so positiv entwickelt wie in den vergangenen Jahren, könnte er eines Tages der erste polnische Sieger einer Grand Tour werden.
Die Geschichte der Vuelta a España 2015 wäre natürlich unvollständig ohne Tom Dumoulin. Der Niederländer schien bereits bei der Tour de France im Juli in Top-Form zu sein: Platz drei bei der Tour de Suisse, Platz vier im Auftaktzeitfahren der Tour und eine sehr aufmerksame Etappe nach Zeeland, wo er zu den wenigen Fahrern gehörte, die auf der Windkante keine Zeit verloren, ließen aufhorchen. Doch die Hoffnungen zerstoben im schweren Massensturz bei der Etappe nach Huy. Dumoulin kurierte seine Verletzungen aus, baute seine Form zur Spanienrundfahrt hin neu auf – und fuhr die beste Grand Tour seiner bisherigen Karriere. Am Ende stehen nicht nur zwei Etappensiege und sechs Tage im Roten Trikot des Spitzenreiters zu Buche.
Dumoulin fuhr hochkonzentriert, teilte seine Kräfte perfekt ein und wahrte bei einer wie immer sehr berglastigen Vuelta bis zum vorletzten Tag seine Siegchancen gegenüber den leichtgewichtigen Kletterspezialisten. Seine Taktik war nicht nur, á la Miguel Indurain seine enorme Zeitfahrstärke auszuspielen und in den Bergen nicht abgehängt zu werden. Dumoulin attackierte vielmehr mehrfach selbst und gewann die Bergankunft in Cumbre del Sol. „Diese Vuelta war für mich einen Tag zu lang“, gestand Dumoulin ein. „Ich habe alles versucht, um das Podium oder die Top Fünf zu halten, aber am Schluß war ich einfach entkräftet.“ Unterm Strich war auch sein Team Giant-Alpecin nicht in der Lage, Dumoulin in den Bergen optimal zu unterstützen. Häufig war er isoliert und hatte die geballte Astana-Macht im Nacken. Doch der 24 Jahre junge Niederländer hat größtes Potenzial für die Zukunft. Seit 26 Jahren hat kein Holländer mehr ein Gelbes Trikot bei der Tour de France getragen. Wer Tom Dumoulin bei dieser Spanienrundfahrt hat fahren sehen, möchte glauben, dass die Wartezeit bald ein Ende hat.
Aus den Top Ten stechen noch Esteban Chaves (Orica-GreenEdge) und Louis Meintjes (MTN-Qhubeka) hervor. Der Kolumbianer Chaves gewann die Etappen in Caminito del Rey und Sierra de Cazorla und trug sechs Tage das Führungstrikot. In den hohen Bergen konnte er nicht mit der Spitze mithalten, doch er verlor nie entscheidend Zeit und machte in der Schlusswoche wieder einige Positionen gut. Auch er ist erst 25 Jahre alt und gehört zu jenen jungen Fahrern, die das Bild dieser Vuelta prägten und in den kommenden Jahren bei der Vergabe der größten Siege ein Wörtchen mitreden wollen. Weniger aufsehenerregend, aber gleichwohl verheißungsvoll fuhr der 23-jährige Südafrikaner Meintjes in die Top Ten. Er gehörte während der drei Wochen eher zur zweiten Reihe und schaffte nur eine Tagesplatzierung unter den besten Zehn, war aber immer in Schlagdistanz und bewies sein Talent für dreiwöchige Rundfahrten. Auch wenn sein Auftritt unscheinbar gewirkt haben mag, für die Entwicklung des jungen Rennfahrers war diese Spanienrundfahrt ein sehr wichtiger Schritt.
Die Geschlagenen
Tejay van Garderen (BMC Racing) wird die Saison 2015 mit gemischten Gefühlen sehen. Erst der sehr starke Auftritt beim Criterium du Dauphiné, dann das bittere Aus bei der Tour de France und schließlich auch die Enttäuschung Vuelta: Auf der 8. Etappe stürzte der US-Amerikaner schwer und brach sich die Schulter, die Saison ist wohl gelaufen. Ähnlich erging es Chris Froome (Team Sky), der mit Ambitionen ins Rennen gegangen war, bei den ersten Bergankünften aber mehrheitlich distanziert wurde und sich dann bei der Etappe in Andorra bei einem Sturz das Kahnbein im Fuß brach. Auch für Vincenzo Nibali lief es nicht nach Plan: Der Italinier wollte in Spanien seine Saison retten, wurde aber schon auf der 2. Etappe disqualifiziert, nachdem er sich vom Teamfahrzeug zu lang hatte ziehen lassen.
Zu den Geschlagenen gehörten letztlich auch Nairo Quintana und Alejandro Valverde (Movistar), wenngleich sie mit ihren Leistungen zufrieden sein dürften. Quintana beendete die Rundfahrt als Vierter, Valverde gewann die 4. Etappe und wurde Gesamtsiebter. In den Kampf um das Rote Trikot konnten beide indes nie wirklich eingreifen. Schon bei der 1. Etappe in Caminito del Rey stieß Quintana nach seiner Attacke an seine Grenzen und wurde distanziert, später schlug er sich mit Krankheiten rum und kam erst gegen Ende der Rundfahrt in Schwung. Valverde fuhr gewohnt offensiv, konnte diesmal aber insbesondere im Hochgebirge nicht mit den Besten mithalten.
Buntes Treiben bei den Sprintern
Die Sprintankünfte sahen eine seltene Abwechslung: War es bei der Tour de France insbesondere André Greipel (Lotto-Soudal), der in einer eigenen Liga fuhr und einen Sieg nach dem nächsten einfuhr, konnte sich bei der Spanienrundfahrt jeder einmal in die Siegerliste eintragen. Peter Sagan (Tinkoff-Saxo) triumphierte in Málaga, Caleb Ewan (Orica-GreenEdge) hatte bei Etappe fünf die Nase vorne, Jasper Stuyven und Danny van Poppel gewannen für Trek Factory Racing die Etappen acht und zwölf, Kristian Sbaragli (MTN-Qhubeka) besiegte John Degenkolb in Castellón, und der wiederum zeigte auf der Schlussetappe in Madrid allen das Hinterrad.
Also Friede, Freude, Eierkuchen allerorten? Sicherlich nicht, zu laut waren die Diskussionen über die Sicherheit der Fahrer. Für Peter Sagan war die Vuelta nach einer Kollision mit einem Motorrad beendet, ebenso erging es Sergio Paulinho (Tinkoff-Saxo). Nacer Bouhanni (Cofidis) war mehrfach in Stürze verwickelt, nach dem großen Crash auf der 8. Etappe war für ihn Schluss. Noch schlimmer erwischte es Kris Boeckmans (Lotto-Soudal), der nach seinem Sturz in ein künstliches Koma versetzt werden musste, daraus mittlerweile aber wieder erwacht ist und sich auf dem Weg der Besserung befindet. Bei allem Spektakel, das die Spanienrundfahrt und der Radsport allgemein bisher in diesem Jahr geboten haben, müssen sichere Rennbedingungen und die Gesundheit der Fahrer immer an erster Stelle stehen.
Sonst noch sehenswert
Die zweitklassige Mannschaft Caja Rural – Seguros RGA fuhr eine beherzte Spanienrundfahrt. Nahezu jeden Tag waren die Männer in den grün-weißen Trikots in den Ausreißergruppen vertreten, allein José Goncalves sammelte fünf Top-Ten-Platzierungen. Für einen Etappensieg reichte es nicht, das Bergtrikot von Omar Fraile war jedoch mehr als ein Trostpflaster.
Das 120-Kilometer-Solo von Ruben Plaza (Lampre-Merida) zum Sieg auf der 20. Etappe war mit Sicherheit eine der Glanzleistungen dieser Rundfahrt. Und Fränk Schleck (Trek Factory Racing) zeigte mit seinem Sieg auf der 16. Etappe, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehört.
Fazit
War die Spanienrundfahrt die spannendste Rundfahrt des Jahres? Legt man allein die Anzahl der Wechsel an der Spitze des Gesamtklassements zugrunde, müsste man diese Frage eindeutig bejahen. Acht Mal wechselte das Rote Trikot seinen Besitzer. Bei Giro und Tour gab es jeweils „nur“ fünf Wechsel. Die Entscheidung über den Gesamtsieg bewegte sich bis zur vorletzten Etappe im Sekundenbereich, am Ende trennten den Erst- und Zweitplatzierten läppische 57 Sekunden. Doch auch bei Giro und Tour lagen die Abstände unter zwei Minuten – kein Vergleich zu den Riesenabständen früherer Jahre. Unterm Strich kann man sagen: Alle drei Grand Tours 2015 haben die Fans mit packendem Radsport verwöhnt. Die Spanienrundfahrt stach dabei tatsächlich ein bisschen hervor. Und es wird spannend sein, zu sehen, wie sich die jungen Protagonisten dieses Rennens in den kommenden Jahren weiter schlagen werden.