Spektrum: Wohl kaum ein anderes Thema beschäftigt die in Deutschland lebenden Radfahrer momentan mehr als die Forderung nach einer Helmpflicht. Muss das Radeln mit Helm tatsächlich gesetzlich vorgeschrieben werden? Der TÜV Nord hat sich dem Thema angenommen und äußert Vorbehalte gegenüber einer generellen Helmpflicht.
Das Verkehrsministerium musste in der letzten Zeit viel Kritik einstecken. Grund hierfür ist die Kampagne, mit der Radfahrern das Tragen eines Helms besonders schmackhaft gemacht werden soll. Mit dem Slogan “Looks like shit. But saves my life.” und Bildern von jungen, schönen und recht spärlich bekleideten Menschen stößt die Kampagne in der Bevölkerung allerdings auf wenig Gegenliebe. Ob die Umsetzung gelungen ist oder nicht, darüber lässt sich sicherlich streiten – Fakt ist aber: Mit einem Helm auf dem Kopf steigen die Chancen, einen Sturz vom Rad ohne schwere Kopfverletzungen zu überstehen. Und die Zahlen sind wahrlich alarmierend. Vergangenes Jahr starben 430 Radfahrerinnen und Radfahrer im Straßenverkehr, informiert der Deutsche Verkehrssicherheitsrat. Laut dem baden-württembergischen Verkehrsministerium könnten Fahrradhelme bis zu 80 Prozent der Kopfverletzungen bei besonders Schwerverletzten verhindern. Ein Forschungsteam in Tschechien analysierte Autopsiereporte von 119 Unfallopfern, die dort zwischen 1995 und 2013 auf dem Rad verunglückt waren. 44 von ihnen hätten demnach mit Helm überlebt – jene, die ohne Fremdeinwirkung gegen ein Hindernis gefahren oder vom Rad gefallen waren.
Laut Verkehrsbeobachtungen trägt nicht einmal ein Zehntel der 17- bis 30-Jährigen beim Radfahren einen Helm. Den jungen Leuten sei das Unfallrisiko nach Angaben des Ministeriums durchaus bewusst, doch der Helm gelte gemeinhin als „unpraktisch, unbequem und unästhetisch“. Rund jeder zweite Erwachsene ist nach eigenen Angaben immer ohne unterwegs, allerdings zweifeln die meisten nicht an seinem Nutzen. Mit Blick auf die Zahlen würde sich eine Helmpflicht also anbieten – oder doch nicht? Alena Hoye vom Institut für Verkehrsökonomie in Oslo schätzt, dass sich die Zahl der schweren Kopfverletzungen nach der Einführung einer Helmpflicht zwar halbieren würde, allerdings nur dadurch, dass weniger Menschen aufs Rad steigen werden. Selbst das baden-württembergische Verkehrsministerium rechnet mit sechs bis sieben Prozent weniger Radverkehr.
Gernot Sieg, Direktor am Institut für Verkehrswissenschaft an der Universität Münster, warnt nicht nur vor der Helmpflicht. Schon wenn Kampagnen das Fahren ohne Helm als leichtsinnig darstellen, würden manche daraus schließen, dass Radfahren generell gefährlich sei – und dann doch lieber wieder auf das Auto umsteigen. Das aber sei unterm Strich ungesünder. Deshalb wären Kampagnen lediglich dann sinnvoll, „wenn für jede aus Sicherheitsgründen abgeschreckte Person mindestens 13 dauerhaft den Helm nutzen“. Die klügere Strategie wäre demnach also, für sicherere Wege zu sorgen. Dies könnte durch striktere Tempolimits, mehr Verkehrskontrollen, Durchsetzung der Regeln und einer besseren Infrastruktur realisiert werden. Dazu zählen unbedingt auch getrennte Wege für Rad- und Autoverkehr.
Seit geraumer Zeit streiten Fachleute zudem über die Frage, ob Menschen mit Schutzausrüstung mehr Risiken eingehen oder ausgesetzt sind als ohne. Im Jahr 2007 beobachtete der britische Psychologe Ian Walker zunächst bei Selbstversuchen auf dem Rad, dass Autos ihn mit weniger Abstand überholten, wenn er einen Helm trug. Später demonstrierte er in Laborexperimenten, dass Versuchspersonen zu riskanteren Aktivitäten neigten, wenn sie unter einem Vorwand einen Helm aufgesetzt bekamen. Walker vermutete, dass die stabile Kopfbedeckung unbewusst ein Gefühl der Sicherheit vermittelte. Eine These, die von anderen Fachleute allerdings widersprochen wird. Unter anderem fand eine Übersichtsstudie in 18 von 23 Untersuchungen keine Hinweise auf eine solche „Risikokompensation“, wie das Phänomen in Fachkreisen heißt.
Einzelne Experimente bestätigen indes den Effekt. So beobachteten Psychologinnen in Kanada bei sieben- bis zwölfjährigen Schulkindern, dass vor allem die abenteuerlustigen unter ihnen mit Helm schneller und waghalsiger fuhren als ohne. „Dennoch sollten Kinder auf dem Rad einen Helm tragen“, mahnt Klaus Peter Kalendruschat von TÜV Nord. Nur sei das eben leider nicht genug. Solange es an einer sicheren Infrastruktur, besseren Gesetzen und Kontrollen zum Schutz von Radfahrenden fehle, könnten besorgte Eltern immerhin eines tun: Mit ihren Kindern immer wieder Vorsicht üben – „und selbst mit gutem Beispiel vorangehen!“