Radsport: Vor zwölf Jahren hat Jens Voigt die Deutschland Tour zum zweiten Mal gewonnen. Auch 2019 ist er aktiv mit dabei – allerdings nicht auf dem Rad. Stattdessen kümmert er sich bei der kinder+Sport mini tour um den Nachwuchs. Autogramme schreiben muss er am Streckenrand immer noch reichlich. Trotzdem hat er sich vor der Teampräsentation Zeit für ein Interview mit Velomotion genommen.
Jens, du hast die Deutschland Tour selbst zweimal gewonnen. Wie wichtig ist es für den deutschen Radsport, dass diese Rundfahrt regelmäßig stattfindet?
Jens Voigt: „Die Deutschland Tour ist eine nationale Rundfahrt und damit natürlich ein Flaggschiff für den gesamten Sport. Wenn sie nun wieder regelmäßig ausgetragen wird, kann das nur ein gutes Zeichen sein. Wichtig ist auch, dass wir hier finanzstarke und erfahrene Organisatoren und Partner haben. Die wollen ganz sicher nicht bei vier Tagen bleiben. Ich denke schon, dass das Ziel ist, die Deutschland Tour irgendwann von Sonntag bis Sonntag oder von Montag bis Sonntag auszutragen. Dann kann man nämlich eines Tages in Berlin starten und über Hamburg und Düsseldorf bis nach München fahren – oder umgekehrt. Toll wäre eben, wenn man mehrere Bundesländer miteinander verbindet. Die erste Austragung wurde von den Zuschauern an der Strecke sehr gut angenommen. Alle waren sehr zufrieden. Ich sehe also nur eine Richtung: Es geht aufwärts!“
Aufwärts ist ein gutes Stichwort. Die Etappen 2 bis 4 wären doch für Ausreißer Voigt perfekt gewesen.
Jens Voigt: „Ja, absolut. Die Rundfahrt ist aber auch gut ausbalanciert. Fabian Wegmann macht als Sportlicher Leiter einen sehr guten Job. Es ist nicht zu leicht, aber auch die Sprinter kommen zum Zug. Es gibt keine Geschenke. Man kann nicht sagen, welcher Fahrertyp gewinnen wird. Es ist tatsächlich jeder Tag wichtig und jede Bonussekunde zählt. Letztes Jahr haben wir ja schon ein sehr offensives Rennen und einen offenen Schlagabtausch der Favoriten gesehen.“
Das wäre auch direkt meine nächste Frage gewesen: Wen tippst du als Sieger?
Jens Voigt: „Nach der Tour tappen wir natürlich alle etwas im Dunkeln. Einige sind müde und haben nicht mehr viel trainiert, sondern sich hauptsächlich erholt. Andere kamen unzufrieden aus der Tour und wollen es jetzt allen zeigen. Es ist wirklich sehr schwer vorherzusagen.“
Du hast dich gerade schon um den Nachwuchs gekümmert. Welche Aufgaben hast du hier bei der Deutschland Tour?
Jens Voigt: „Genau. Ich bin hier ganz offiziell für die kinder+Sport mini tour zuständig. Wir wollen den Kindern aller Altersgruppen den Radsport näherbringen. Heute haben wir auf Grund des engen Zeitrahmens nur das Laufradrennen für die zwei- bis fünfjährigen durchgeführt. Ab morgen kommen die sechs- bis zwölfjährigen dazu. Und wir haben eine Erlebniswelt aufgebaut. Dort sind drei Stationen zu bestreiten: 1) ist eine Mini-BMX-Bahn, wo es um die Körperbeherrschung und die Balance geht. 2) ist ein Lernparcours, auf dem die Kinder grundsätzlich lernen, geradeaus zu fahren, anzuhalten, und Kurven zu nehmen. 3) ist ein kleines Zelt, in dem ein kleiner Ergometer aufgebaut wurde. Davor gibt es eine Leinwand, auf der eine echte Verkehrssituation abgespielt wird. Dann muss das Kind entscheiden: Wann muss ich bremsen und wann habe ich Vorfahrt? Und wenn auf dem Ergometer die Bremse betätigt wird, bremst auch das Kind auf dem Bildschirm. Das ist also alles direkt miteinander verbunden. Die Kinder erhalten dann bei allen Stationen einen Stempel. Haben sie sich drei Stempel erarbeitet, wird ihnen ein kleiner Fahrradführerschein ausgestellt.
Wie wichtig es ist, sich um die Jugend zu kümmern, sehen wir auch an aktuellen Ergebnissen. Es scheint, als würden die Stars immer jünger werden. Egan Bernal gewinnt mit 22 die Tour, Remco Evenepoel scheint schon mit 19 auf höchstem Niveau zu fahren.
Jens Voigt: „Ja, der Evenepoel wird mal ein ganz Großer. Wenn bei ihm die Karriere nur halbwegs planmäßig verläuft, kann ihn glaub ich niemand aufhalten. Der hat ein sagenhaftes Talent. Vor Kurzem hat er ja die Clasica San Sebastian gewonnen. Und das ist ganz sicher kein einfaches Rennen.“
Du hast schon häufiger öffentlich für kürzere Flachetappen plädiert, da sich kaum jemand sechs Stunden Anfahrt bis zum Massensprint anschauen möchte. Was für Veränderungen würdest du dir im Radsport wünschen?
Jens Voigt: „Also ganz spontan und ohne über Realismus nachzudenken: Mehr Rundstreckenrennen! Es ist einfacher für den Veranstalter, alles abzusperren. Auch das Fernsehen hat es leichter, denn man kann einfach an allen Ecken Kameras aufstellen. Du brauchst keine Helikopter mehr und musst auch nicht mehr mit Motorrädern hinterherfahren. Auch die Zuschauer würden es mögen, denn sie sehen die Profis nicht nur einmal vorbeifahren. Aber ich als Fahrer wäre der Erste gewesen, der gesagt hätte: Das ist ja der allergrößte Scheiß! Denn Rennfahrer mögen das eigentlich nicht so sehr. Außerdem ist es auch eine finanzielle Sache, da der Start- und der Zielort Geld bezahlen. Hast du nur noch eine Stadt mit einbezogen, geht viel Geld verloren. Aber man kann zumindest im Zielort noch ein paar Runden drehen. Dort stehen die Zuschauer stundenlang und die wollen mehr sehen.
Auch bei meiner nächsten Idee hätte ich als Fahrer gesagt: Bist du bescheuert! Aber Doppeletappen wären super. Morgens 60 Kilometer und am Nachmittag nochmal 60 Kilometer. Da würden die Fahrer Vollgas fahren. Es würde das Rennen spannender machen. Aber die Fahrer würden sich darüber natürlich nicht freuen. Ich sehe das einfach bei meinen Kindern. Die Jungs sind jetzt fast 24 und 20. Die sagen zu mir: Nie im Leben schaue ich mir fünf Stunden Radrennen an. Ich will das ganze Rennen in einem 5-Minuten-Clip aufbereitet und mit cooler Musik hinterlegt haben. Aber wir können natürlich kein Radrennen innerhalb von fünf Minuten machen. Wenn du die Jugend begeistern willst, musst du es für sie aber konsumierbar machen. Die sind ja nicht so wie wir und setzen sich mit dem Picknick-Korb zwei Stunden an den Streckenrand. Wir müssen eben einen gesunden Mix finden, um die langjährigen Fans nicht zu verlieren, gleichzeitig aber die jungen Generationen für den Radsport zu begeistern.
Mehr Kameras! Helmkamera vorne, Helmkamera hinten. Eine Kamera hinten am Sattel, eine vorne am Lenker. Und dann müsste der Regisseur immer genau dort hinschalten, wo gerade etwas Spannendes passiert. Die Zuschauer müssen mehr am Rennen teilnehmen, sollten jederzeit alles sehen dürfen und Teil des Pelotons sein. Vielleicht sollten wir auch Drohnen einsetzen, oder den Bildschirm vierteilen. Wir sollten einfach insgesamt für mehr Action und Spannung sorgen.
Ich als Alter möchte diese Neuerungen natürlich nicht. Ich setze mich gerne auf mein Sofa, mit meinem Kaffee und meinen Keksen. Dann esse ich noch einen Apfelkuchen und schaue mir drei, vier Stunden Radrennen an. Das ist unheimlich interessant, wenn man versteht, was da passiert. Ich denke mir oft: Hey, die zwei reden miteinander, die planen gleich etwas gemeinsam. Oder ich frage mich: Warum lassen sie die Spitzengruppe so weit weg?“
Ein Radrennen ist wie ein Film, der sich langsam aufbaut und immer spannender wird. Dazwischen gibt es immer wieder Highlights. Und wenn du nur die letzten Minuten schaust, kennst du die Vorgeschichte gar nicht.
Jens Voigt: „Genau. Radsport ist Schach auf Rädern. Man darf nicht vergessen, dass es am Start immer mindestens genauso viele Pläne gibt, wie Mannschaften. Und wie sagte schon der große Feldherr von Moltke? Das Erste, was einer Schlacht zum Opfer fällt, ist der Schlachtplan. So ist es auch im Radsport. Welche Mannschaft kann ihren Plan in der Realität umsetzen? Ich kann mir das stundenlang angucken.“