Radsport: Bei einem Radrennen entscheiden Beine, Ausdauer und Konzentration über Sieg und Niederlage. Doch das sind längst nicht alle Anforderungen, die an einen Profi gestellt werden. Viele Gelegenheitszuschauer unterschätzen die Wichtigkeit der Taktik im Radsport. Wir waren vor der vierten Etappe der Deutschland Tour bei der Teambesprechung von Lotto-Kern Haus mit dabei – und haben zu diesem Thema auch Teamchef Florian Monreal und Fahrer Florian Nowak befragt.
Schon vor dem Startschuss beginn der Arbeitstag
Deutschland Tour. Letzter Tag. Die Sonne scheint. In Lorsch haben sich die Teambusse und Begleitfahrzeuge aufgestellt. Die Fahrer schreiben sich direkt am Kloster auf einer extra aufgebauten Bühne ein und präsentieren sich den zahlreichen Fans. Während die TV-Übertragung noch längst nicht begonnen hat, sind die Hauptprotagonisten der Deutschland Tour bereits dabei, sich auf den Start vorzubereiten. Über eine Stunde vor dem Beginn der Etappe stellen sie sich den Fragen der Journalisten und geben ihren Fans Autogramme. Kurz bevor es auf dem Drahtesel Richtung Stuttgart geht, versammeln sich die Profis in ihren jeweiligen Teambussen und lauschen den Worten ihres Teamchefs – so auch die deutsche Mannschaft Lotto-Kern Haus. Jan Hugger, Joshua Huppertz, Tobias Knaup, Dorian Lübbers, Florian Nowak und Fabian Schormair nehmen in ihrem kleinen Teamfahrzeug Platz und Teamchef Florian Monreal ergreift das Wort. In der Hand hält er das Roadbook mit dem Zeitplan der entsprechenden Etappe und dem Streckenprofil.
„Wenn da richtig Radrennen ist, wird es richtig ekelhaft“
Auf der letzten Etappe der Deutschland Tour ist kein Massensprint zu erwarten. Viel zu wellig sind die 207,5 Kilometer von Lorsch nach Stuttgart. Das weiß Florian Monreal ebenso wie seine Fahrer: „Der Josh und der Tobi kennen die Stecke in- und auswendig“, leitet er die Teambesprechung ein. Danach melden sich die Fahrer selbst zu Wort, weil sie den Parcours bereits im Training abgefahren sind: „Der erste Berg ist nicht wirklich steil, aber danach geht es auf einer engen Straße bergab. Dort wird es definitiv in einer Einerreihe hinuntergehen. Anschließend geht es direkt wieder hoch. Wenn da richtig Radrennen ist, wird es richtig ekelhaft.“ Wer könnte für ein solch ekelhaftes Radrennen sorgen? Florian Monreal vermutet, erneut die französische Equipe AG2R La Mondiale, welche bereits am Vortag für ein erhöhtes Tempo gesorgt hat, obwohl sie laut Tobias Knaup im gemeinsamen Hotel noch einen so sympathischen Eindruck hinterlassen haben.
Gute Beine haben, Füße still halten
Genau das gehört auch zu jedem Radrennen: Manchmal verfolgen die Teams ähnliche Ziele, doch hin und wieder werden sie zu erbitterten Gegnern – oft wechselt dieser Zustand sogar innerhalb einer Etappe. Daher muss auf die Strategien der Gegner auch live immer wieder reagiert werden. Doch die taktische Ausrichtung vor dem Start steht schon fest: „Joshi, das Finale ist – wie gestern bereits – eigentlich wie für dich gemacht. Du hast gesehen, dass du hier in die Top 10 fahren kannst. An deiner Stelle würde ich die Füße still halten, um dann am Ende vorn mit dabei zu sein.“ Eine klare Ansage von Florian Monreal an den sprintstärksten Mann im Team. Joshua Huppertz ist erst 23 Jahre jung und hat in der Rad-Bundesliga mehr als einmal gezeigt, dass er verdammt schnelle Beine hat. Doch bei der Deutschland Tour fährt er gegen andere Kaliber.
Der Traum von der Ausreißergruppe
Platz zwölf in Merzig – auf dem welligen Parcours des Vortags – war für Joshua Huppertz ein großartiger Erfolg. Dieser war nur möglich, weil die Mannschaft ihn dabei unterstützt hat. „Ihr habt im Finale einen guten Job gemacht und den Josh vorn reingefahren.“ Doch am letzten Tag der Deutschland Tour möchte sich das Team Lotto-Kern Haus gerne noch aktiver präsentieren. „Lasst uns schauen, dass wir in die Gruppe des Tages kommen. Und wenn zwei von uns vorn dabei sind – noch besser!“ Doch die Gefahr einer aktiven Fahrweise ist bekannt. Deshalb warnt Florian Monreal, sich nicht bereits vor den ersten Bergen den Zahn ziehen zu lassen. Zu Beginn sind die Straßen nämlich breit und eine Flucht ist äußerst schwierig. „Nicht selber fahren, nur bereit sein und dann die Angriffe mit Auge mitfahren. Ihr habt das ganze Jahr über bewiesen, dass ihr das könnt. Und das machen wir heute auch nochmal.“
Joshua Huppertz schließt Deutschland Tour auf Rang 18 ab
Wir machen einen Zeitsprung von rund sechs Stunden. Die vierte und letzte Etappe der Deutschland Tour ist gerade in Stuttgart zu Ende gegangen. Mit Rang 18 hat sich Joshua Huppertz erneut gut verkauft und die Farben von Lotto-Kern Haus positiv präsentiert. Doch mit der Ausreißergruppe sollte es auch heute nicht klappen. Wie von Florian Monreal bereits vermutet, haben die breiten Straßen eine einfache Flucht verhindert. Nicht durch Zufall konnten sich mit Remy Cavagna (Quick-Step Floors) und Vasil Kiryienka (Sky) nur zwei Profis von WorldTour-Teams vor dem Feld positionieren. Erstmals war keine Pro-Continental- oder Continental-Mannschaft in der Flucht mit dabei. So musste sich auch Lotto-Kern Haus damit begnügen, Im Hauptfeld Kräfte zu sparen – und dieser Teil der Taktik ging auf. Die Attacke von Tom Dumoulin (Sunweb) mit Lennard Kämna konnte man zwar nicht mitgehen, aber hinter der Gruppe mit den Top-Fahrern sprintete Joshua Huppertz auf Rang 18.
Zum Finale der Deutschland Deine Tour fuhr Joshua Huppertz nochmals einen Spitzenplatz ein. Auf der 4. Etappe erreichte er einen tollen 18. Platz und ließ viele namhafte Kollegen hinter… https://t.co/6oNFWfy5Xn
— Team Lotto Kern-Haus (@lottokernhaus) 26. August 2018
Interview mit Fahrer Florian Nowak
Florian, wie wirkt eine Teamansprache auf dich als Fahrer, mehr taktisch oder emotional?
Florian Nowak: „Eigentlich schon mehr taktisch. Das Emotionale machst du mit dir selbst aus. Wenn wir heute nach Stuttgart fahren, werden uns dort viele Zuschauer empfangen.“
Inwiefern hat ein Fahrer bei einer Taktik Mitspracherecht?
Florian Nowak: „Also ich bin zusammen mit Joshi der Ansprechpartner bei uns im Team. Bei hektischen Situationen entscheiden wir. Klar haben wir Funk, aber bis du durchfunkst, vergeht Zeit. Oft müssen wir spontan und plötzlich reagieren. Die Grundtaktik gibt aber natürlich der Teamchef schon vor dem Rennen vor. Wir versuchen alles im Rahmen dessen gut zu steuern.“
Oft hört man von „guten Beinen“. So etwas wird vermutlich auch direkt weitergegeben und dann passt man die Taktik an.
Florian Nowak: „Genau, so etwas auf jeden Fall. Gestern zum Beispiel haben Joshi und ich uns kurz vor dem Ziel noch unterhalten. Er hatte einfach die besseren Beine und dann opfere ich mich auch für ihn auf.“
Folgt jemand der Teamtaktik nicht und zieht stattdessen sein eigenes Ding durch, kommt das sicher fast einem Verrat gleich.
Florian Nowak: „Das ist dann oft ein Ego-Problem. Der Radsport ist ein Teamsport, der sehr individuell gestaltet wird. Klar ist es manchmal schwierig, wenn du mega gute Beine hast und dich gut fühlst, dann aber nicht fahren darfst. Vielleicht hast du auch noch keinen Vertrag für die kommende Saison und verfolgst deshalb eigene Ambitionen – doch dann musst du dich in den Dienst deiner Teamkollegen stellen. Das ist bei uns aber echt super, weil wir so eine coole Truppe sind. Wir arbeiten auch gerne füreinander.“
Beim Thema Taktik spielt der Funk eine entscheidende Rolle. Wie stehst du dazu?
Florian Nowak: „Für die Rennübersicht bringt es mir auf jeden Fall etwas. Das hängt aber auch sehr stark vom Sportlichen Leiter ab. Meiner Meinung nach wird aber kein Rennen nur durch den Funk gewonnen oder verloren.“
Interview mit Teamchef Florian Monreal
Florian, wie entwickelst du vor dem Rennen eine Taktik für dein Team Lotto-Kern Haus?
Florian Monreal: „Wir wissen ja vorher schon, wer in unserer Mannschaft der Kapitän ist, weil er am besten zum entsprechenden Profil passt. Auf ihn wird dann die Taktik ausgerichtet. Bei der Deutschland Tour ist Joshua unser Kapitän. Er hat gestern gezeigt, dass er da vorn reinfahren kann. Auch am Tag zuvor war er stark, als er attackiert hat. Wenn aber dann die Top-Fahrer noch einmal drüber attackieren, hast du halt einen im Schuh.“
Viele Gelegenheitszuschauer sehen beim Radsport nur ein paar Profis, welche schnell auf dem Rad unterwegs sind und am Ende gewinnt einer. Wie wichtig ist die Taktik im Radsport?
Florian Monreal: „Ja, der nicht radsportbegeisterte Zuseher sieht – wie du schon sagtest – nur ein paar Leute Fahrrad fahren. Aber am Ende ist Radsport eine Teamsportart. Die Fahrer müssen aus dem Wind gehalten und vor engen Stellen und den Zielankünften in Position gebracht werden. Da muss die Strecke besprochen werden und jeder bekommt seine Aufgabe. Das muss schon alles definiert werden, damit jeder weiß, was er zu tun und zu lassen hat. Hast du eine gute Mannschaftstaktik und die Fahrer harmonieren gut miteinander, dann kommen auch Erfolge zustande.“
Inwiefern können sich die Fahrer im Team Lotto-Kern Haus bei Taktik-Fragen selbst mit einbringen?
Florian Monreal: „Die Kapitänsrolle ist schon vergeben, aber die Fahrer können sich natürlich schon mit einbringen, indem sie einfach länger bis zum Schluss mit dabei sind. So können sie den Kapitän noch länger unterstützen oder noch einmal eine Attacke starten. Die Profis heutzutage müssen schon auch selbst ein Feeling dafür haben. Es nützt nichts, wenn ich über Funk sage, sie sollen schneller und schneller fahren, wenn sie schneller nun mal nicht fahren können. Jeder Profi muss selbst im Gefühl haben, was er leisten kann und was nicht.“
Für die Fotos bedanken wir uns bei Marcel Hilger.
Hier geht es direkt zu seiner Homepage: www.marcelhilger.de